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Der geflügelte Kinnträger und der Flügelstürmer Von Ralf Sotscheck

Es hat wieder nicht geklappt. Dabei haben wir uns wirklich alle Mühe gegeben, ehrlich! „Die Engländer haben bei der WM vor vier Jahren die irische Mannschaft so nett angefeuert“, sagte Tess, eine 75jährige Fußballenthusiastin. „Wir sollten uns zusammenreißen und ihnen die Daumen gegen Kolumbien drücken.“ Dann war sie aber die erste, die loskrähte: „Seht euch diese Burenfressen auf der Tribüne an, wie sie ,Rule Britannia‘ blöken!“ Andere im Dubliner Pub hatten von Anfang an keine Zweifel an ihren Sympathien gelassen. „Ich gehe vorurteilsfrei an Fußballspiele heran“, sagte einer. „Mir ist es völlig schnuppe, wer die Engländer schlägt.“

Die über Nacht erblondeten Rumänen hatten es bereits getan. Jimmy Hill, dem wegen seines endlosen Kinns legendären BBC- Kommentator, gefiel die kosmetische Veränderung der Rumänen ausgesprochen gut: „Wenn man nach unten auf den Ball guckt und nur einen Augenblick Zeit zum Abspielen hat, ist ein heller Kopf ein guter Blickfang.“ Ach, Jimmy, du besitzt so etwas jedenfalls nicht – dafür aber eine Fliege mit aufgedrucktem Georgskreuz, der alten englischen Nationalflagge, die links und rechts hinter seinem besonderen Kennzeichen herausragte. Der geflügelte Kinnträger bemerkte über den Flügelstürmer Darren Anderton, den er vor zwei Wochen noch in Grund und Boden verdammt hatte, er sei „durch das Herumsitzen und Zuschauen während seiner Verletzungspause ein besserer Spieler“ geworden. Demnach müßte ich absolute Weltklasse sein. Wir schalteten hillbedingt zum irischen Fernsehen um.

Dort erzählte ein irischer Zuschauer, daß er zufällig in Marseille gewesen sei, als England im ersten Spiel gegen Tunesien antrat. Weil alle Kneipen mit englischen Fans überfüllt waren, fotokopierte er kleine Handzettel mit einer Einladung zum kostenlosen warmen Bier am Strand. Damit rettete er Marseille aber auch nicht. Als nächstes kam Lens, und morgen muß St. Etienne dran glauben. England gegen Argentinien – ein Spiel, das man sehen muß, ist es für einige doch eine Art Neuauflage des Malvinenkriegs. Und dann war da ja auch noch die „Hand Gottes“, mit der Maradona die Engländer einst aus der Weltmeisterschaft beförderte.

St. Etienne ist in den siebziger Jahren bereits zweimal Opfer der englischen Fans geworden: Beim ersten Mal spielte Manchester United im Europacup gegen das heimische Team, und die Schlachtenbummler randalierten auf den Rängen. Ein paar Jahre später kam der FC Liverpool. Diesmal sicherten sämtliche verfügbaren Polizisten das Stadion „Geoffroy Guichard“. Die englischen Fans räumten unterdessen die Juweliergeschäfte in der Innenstadt leer. Morgen steigt die dritte Runde.

Ein Reporter, der das nicht mehr erleben wird, ist Tommy Gorman vom irischen Fernsehen. Er sprach vor dem Kolumbien- Spiel mit Roy Hodgson, einen englischen Vereinstrainer, der überzeugt war, daß England ins Achtelfinale kommen würde. „Aber dann trefft ihr auf Argentinien“, meinte Gorman hämisch, „und dann fällt mit Sicherheit der Vorhang für euch.“ Das Interview wurde auf der Anzeigentafel im Stadion von Lens übertragen, und 45.000 englische Fans hörten es mit Empörung. Von Gorman hat man seitdem nichts mehr gehört.

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