: Danke für die Flanke
Ein guter Jahrgang: In Klagenfurt wurde wieder um die Wette gelesen. Sybille Lewitscharoff und Kathrin Schmidt heißen die Gewinnerinnen beim Bachmann-Preis ■ VonJörg Magenau
Klagenfurt liegt hinter den Bergen. Der Zug dorthin fährt an vielen kleinen Bahnstationen vorbei. Da stehen seit Kaisers Zeiten die Bahnhofsvorsteher mit ihren roten Bahnhofsvorstehermützen und salutieren innerlich: Habe die Ehre! Vielleicht hält ja doch einmal ein Zug, wer weiß.
Mitten in Klagenfurt steht der berühmte Lindwurmbrunnen, weil hier in sagenhaften Zeiten ein Ungeheuer getötet wurde. Daneben hat der ORF eine Großbildleinwand aufgebaut, um die Niederlage gegen Italien großformatig ins kollektive Bewußtsein zu brennen: Bittedanke, gerne! In den Schaufenstern der Buchhandlungen liegen Titel wie „Doppelpack“ von Toni Polster oder „3:2 – 20 Jahre Cordoba“. Schwere Zeiten für die verletzliche österreichische Seele, schwere Zeiten auch für die „Tifosi der Literatur“, die Juryvorsteher Iso Camartin im Sendesaal des ORF zum 22. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb begrüßt. Die Literaturszene, die sich während dieser Tage gerne im Mittelpunkt wähnt, ist in diesem Jahr noch ein Stück weiter an den Rand gedrängt: Was vermag die Welthaltigkeit eines Textes gegen eine Weltmeisterschaft? Wie verhält sich Sprachkultur zu Spielkultur? Kann Kritik etwas anderes, Besseres sein als die Analysen und Stimmen nach dem Spiel? Hat Literatur in Zeiten der Fußballära überhaupt eine Chance?
Ja, sie hat, und vielleicht ist sie ja die schönste Nebensache der Welt. Die Randlage tat dem Wettbewerb jedenfalls gut. Die meisten Autoren traten zu diesem live auf 3Sat übertragenen Ereignis in angenehmer Gelassenheit auf, als sei ihnen endlich klar, daß alles nur ein Spiel ist – ein Spiel allerdings, bei dem die Anteile zukünftigen Ruhmes und Verkaufserfolges verteilt werden. Doch wer sich nach Dichterart im Mittelpunkt wähnt, muß irgendwie verrückt sein, so verrückt wie der Herr Pong im Text von Sibylle Lewitscharoff, der neuen Bachmann-Preisträgerin. Der beginnt nämlich so: „Einem Verrückten gefällt die Welt, wie sie ist, weil er in ihrer Mitte wohnt. Nicht in irgendeiner Mitte, sondern in der gefährlich inschüssigen Mittemitte, im Zwing-Ei. Ein unbedacht aus diesem Heikelraum weggerücktes Haar brächte die Welt ins Wanken und dann auf Schlingerkurs Mond Sonne Milchstraße ade systemwärts e-e.“
Sibylle Lewitscharoff, Jahrgang 1954, hat so gar nichts Dichterdarstellerhaftes an sich: kein nachtschwarzes Gewand, keine Sonnenbrille, kein wichtigtuerisches Geschwätz. Der Geburtsort Stuttgart ist ihrem gaumendunklen Tonfall deutlich anzuhören. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Ihr bisher einziges Buch, „36 Gerechte“, enthält Scherenschnitte. Außerdem hat sie ein Grammatik- Brettspiel erfunden und ein Hörspiel geschrieben („Im Schrank“). Ihr erster Prosa-Text erscheint im Herbst im Berlin Verlag unter dem Titel „Pong“, woraus sie einen Ausschnitt las.
Als gelernte Religionswissenschaftlerin kennt Sibylle Lewitscharoff sich aus mit Wahnsystemen und den möglichen Versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Auch beim Schreiben beginnt sie mit einer Ordnungskonstruktion. Doch nichts von den präzisen Skizzen, mit denen sie einen Text entwerfe, finde sich später darin wieder, erzählt sie: Der Arbeit mit der Ordnung haftet immer auch Vergeblichkeit an. „Pong“, ihr „Verrückter“, ist unentwegt damit beschäftigt, Zusammenhänge herzustellen, Systeme zu entwerfen, mit denen sich die unübersichtliche Welt der Dinge sortieren läßt. Er lebt in einer Wahnwelt kunstvoll erdachter Zusammenhänge, in der es keinen Größenunterschied zwischen Milchstraße und Schnürsenkeln gibt. Die eigene „Singularperson“ gerät rasch ins Trudeln, wenn sich etwas der Einordnung verweigert. Pongs Weltzurechtlegungsstrategien sind von der Normalität immer nur eine Winzigkeit entfernt. Seine zahlreichen Sorgen – daß man ihn bloß hingekritzelt hat, daß falsche Gemahlinnen ihn bei Gericht verklagen und überhaupt: die unergründlichen Frauen! – sind nicht ganz fremd: Wer hätte nicht wie er Angst vor Familienangehörigen, die sich in schwachen Momenten unbemerkt ankleben? So entsteht in einer leicht schiefgestellten Welt eine schlüssige, abschüssige Absurdität, die an Miniaturen von Daniil Charms erinnert oder, in ihrem Witz und ihrer präzisen Skizzenhaftigkeit, an Texte von Reinhard Lettau.
Jury und Publikum waren gleichermaßen gefangen und „beglückt“ von diesem „Furiosum, das uns den Kopf leicht und hell macht“, wie Iso Camartin formulierte. Nur Iris Radisch mäkelte ein bißchen an der „puppenstubenhaften Baukastenschreibweise“ herum, weil sie kurz zuvor schon Kathrin Schmidt in den höchsten Literaturhimmel hochgelobt hatte und weil Lob und Kritik immer auch ein bißchen taktisch im Hinblick auf die Preisverleihung verteilt werden müssen.
Kathrin Schmidt, 1958 in Gotha geboren und in der DDR aufgewachsen, unterlag schließlich nur knapp mit 3:4 Stimmen und mußte sich für den Auszug aus ihrem ersten Roman, „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“, mit dem Preis des Landes Kärnten begnügen. Kein Zweifel, daß auch ihr Beitrag aus dem Querschnitt der Schreibweisen und handwerklichen Bemühungen herausragte. In anderen, schlechteren Bachmann-Jahren hätte es vielleicht für den ersten Preis gereicht. Denn der Stoff – eine Ostpreußen- und Ostsee-Familiensaga, eine Geschichte über Vertreibung und weibliche Erotik – fängt kollektive Erinnerung träumerisch leicht und poetisch ein. Schmidt, bisher als Lyrikerin hervorgetreten und mehrfach bepreist, erzählt drastisch, phantasievoll und sinnlich. Ihre Geschichte hat vielleicht nur den Nachteil, allzusehr an Grass' Blechtrommel oder Johnsons Mecklenburg zu erinnern.
Der komplette Roman wird demnächst zu haben sein: Die fertigen Leseexemplare wurden vom Verlag Kiepenheuer & Witsch schon seit einigen Wochen zurückgehalten, weil in Klagenfurt nur Unveröffentlichtes vorgetragen werden darf. Raffinierter ging der DuMont Verlag ans Werk, um sein neues literarisches Programm auf der Bachmann-Bühne zu präsentieren. DuMont-Autor John von Düffel trat mit einem Kapitel aus dem Roman „Vom Wasser“ an. Die Leseexemplare waren schon vor Wochen verschickt worden, man hatte lediglich die Seiten 137 bis 168 unbedruckt gelassen und mit einem Hinweis auf Klagenfurt versehen. So läßt sich das Reglement unterlaufen, und der Bachmann-Preis verwandelt sich von einer Börse, auf der Neues zu entdecken wäre, in eine Marketing- Veranstaltung, die Produkte strategisch einführt und die funktioniert wie die großen Filmfestivals. Vorgeschlagen wurde John von Düffel von Juror Thomas Hettche, selbst Autor, bei Suhrkamp einst von Christan Döring lektoriert, bevor der als Lektor zu DuMont wechselte, wo auch Thomas Hettches nächstes Buch erscheinen soll. Düffels „Vom Wasser“ ist übrigens die ziemlich langweilige, breit und langsam dahinströmende Geschichte einer Papierfabrikantendynastie, deren kunstgewerbliche Perfektion aber doch so sehr beeindruckte, daß die Jury sie auf Platz 3 (Ernst-Willner-Preis) setzte.
Auch über das 3Sat-Stipendium für Ralf Bönts blutarme Berlin- Geschichte kann man geteilter Meinung sein – doch hinter Lewitscharoff und Schmidt gab es eben nichts mehr, was aus der Menge des Bemühten, bloß gut Gemachten herausragte. Immer wieder allerdings „Authentisches“: Texte, die sich weniger durch ein ästhetisches Programm als durch die Schilderung echter und einziger Lebenswelt des Autors beglaubigten. Am deutlichsten wurde das bei Tim Staffel, dem derzeitigen Vorzeigeweltverächter der Hochglanzmagazine, dessen Beitrag über eine Gruppe gewaltverfallener Streetball-Hip-Hopper in Originalslang sich literaturkritisch kaum noch fassen ließ und sich so finster gebärdete, daß der gute Onkel Iso Camartin damit gar nichts zu tun haben wollte.
Die Jury bewältigte die stilistische und thematische Vielfalt der 16 Lesungen recht souverän mit der Vielstimmigkeit ihrer Temperamente: Was an der demonstrativen Gelangweiltheit Thomas Hettches nicht zerschellte und vor der analytischen Klugheit der Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen bestehen konnte, mußte eigentlich gut sein. Was Iris Radischs aufbrausenden Zorn überstehen, Hardy Ruoss' schwitzende Ehrlichkeit und Robert Schindels Wiener Schmäh überstand, taugte bestimmt etwas. Und Ulrike Längle, österreichische Lady Diana der Ästhetik, sorgte mit ihrer tastenden Ratlosigkeit für das anarchisch-unvorhersehbare Element. Seit die Juroren die Manuskripte schon im voraus erhalten, hat die Diskussion zwar an sportivem Charakter und an Spontaneität verloren. In glücklichen Momenten kann man aber immer noch die allmähliche Verfertigung und Verfestigung des Urteils im Streit erleben, wenn sich aus Meinung und Gegenmeinung, aus unterschiedlichen Teilaspekten langsam eine Art Wahrheit bildet. Dann fliegen in dieser modellhaften Öffentlichkeit die Argumente wie Spielbälle, dann ruft Silvia Bovenschen: Danke für die Flanke!, und Iso Camartin zerreibt erbsengroße imaginäre Bälle zwischen den Fingerspitzen, um wie ein Feinschmecker nach passenden Begriffen zu suchen. Und jetzt wieder Fußball.
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