■ Nachschlag: Siebte Sommernacht der Lyrik in der literaturWERKstatt Berlin
Hat es nicht etwas ungeheuer Heldenhaftes, sich in einer verregneten Samstagnacht ins abgelegenste Pankow zu begeben, eine literaturWERKstatt zu besuchen, wo einem der grüne Teppich an den Schuhen kleben bleibt, während der Rest der Welt Fußball guckt? Aber dann wundert man sich sehr, daß es keine Sitzplätze mehr gibt: „Der Saal ist proppenvoll“, stellt Ulrich J. Beil konsterniert fest. Er eröffnet die 7. Sommernacht der Lyrik, und das Publikum lauscht so andächtig, als habe es eine Zeit tiefer Gedichtlosigkeit hinter sich. Seine Gedichte, ganz in der Tradition der lyrischen Hochmoderne, erzählen vom Vakuum, das die großen Ideen zurückgelassen haben, von einem Stern, der sich auf einer Verpackung spiegelt. Es folgt der Lyriker Xiao Kaiyu, zur Zeit Gast in der literaturWERKstatt. Er liest chinesisch und beim Vortrag der Übertragungen ins Deutsche fühlt man sich wie ein Blinder auf einem fremden Stern, angewiesen auf den Blick eines Fremden, der einem den Weg weist und bar jeder Melodie behauptet, Kaiyus Lyrik handele vom Leben in Pankow und Schanghai und davon, daß Glück heißt, „in der ersten bis dritten Person Singular das Blaue vom Himmel zu reden“.
Dann stehen Menschen herum und trinken Wein: Pause. Einer redet von einer Gegend, die ihm „zu sehr Neukölln“ sei, um dort zu wohnen. Zu Beginn der zweiten Runde verkündet der Moderator Peter Geist, Deutschland habe gegen Kroatien drei zu null verloren. Alles jubelt. John Ashbery wackelt auf die Bühne. Seine Gedichte sind der Höhepunkt des Abends. Sie sind einfach und klar, nie klingt es, als habe er nach originellen Alternativen zu ausgelutschten Floskeln gesucht. Keine Wortspiele, dafür Alltägliches, das anfängt zu schillern. Gegen drei Uhr morgens hat das Publikum fast hundert Gedichte von dreizehn Autoren auf sich niederprasseln lassen. Nur wenige sind gegangen. Der Vorletzte, Norbert Hummelt, liest: „Ich nicke ja immerfort ein und erschrecke, weil ich das Pfeifen meiner Lungen höre.“ Und doch schafft es zu guter Letzt noch einmal Thomas Kling, das Publikum aufzuschrecken. Er liest mit geballter Wucht drei Gedichte. Das allerletze handelt von feinem Regen aus Mohnkörnern. Draußen regnet es immer noch. Susanne Messmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen