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Grüne therapieren ihr Schleudertrauma

■ Nach der Kontroverse um Tempo 100 auf den Autobahnen bemüht sich die Partei um einheitliches Auftreten im Wahlkampf – nicht sehr erfolgreich. SPD-Geschäftsführer Müntefering will Raser zu Tempolimit 170 verdonnern

Bonn/Berlin (taz) – Die Grünen steigen im politischen Formel- Chaos-Rennen um ein Tempolimit auf die Bremse. Nachdem die grüne Bundestagsabgeordnete Gila Altmann mit der Forderung nach einer Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen eine Kontroverse in ihrer Partei und mit dem möglichen Koalitionspartner SPD ausgelöst hatte, war die Parteispitze gestern um Kursbegradigung bemüht. Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle mahnte, nicht von den eigentlichen Wahlkampfschwerpunkten abzulenken. Im Mittelpunkt des grünen Wahlkampfs müßten unter anderem die ökologische Steuerreform und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit stehen. Es sei schade, so Rühle, daß einige Leute mit der Tempodebatte dazu beitrügen, von diesen Punkten abzurücken.

Damit meinte die Bundesgeschäftsführerin außer der verkehrspolitischen Sprecherin Gila Altmann wohl auch die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion, Elisabeth Altmann. Die hatte die Position, Tempo 100 auf Autobahnen und Tempo 80 auf Landstraßen einzuführen, als „grünen Irrweg“ bezeichnet und behauptet, es gebe einen Konsens der Partei für Tempo 130.

Der Tempostreit wurde trotz Rühles Ermahnung fortgesetzt, wenn auch verlangsamt. Joschka Fischer hielt an der Forderung nach Tempo 100 fest. Es sei eine „Existenzfrage“ für eine ökologische Partei, diese Forderung zu stellen. Deswegen verstehe er die daraus entstandene Debatte überhaupt nicht. Der parlamentarische Geschäftsführer der Bündnisgrünen im Bundestag, Werner Schulz, warnte dagegen: „Mit solchen Forderungen wie dem generellen Tempolimit löst man einen allgemeinen Bevormundungsschock aus.“ Dieser mindere die Wahlchancen. Er kritisierte solche Gebote als „alte Hüte aus grünen Programmen“. Zugleich beklagte er, daß sich in seiner Partei zu viele berufen fühlten, zu allem Meinungen zu äußern. Zu Koalitionen und ihren Bedingungen sollten sich nur die Spitzen von Partei und Fraktion äußern. Dessenungeachtet sprachen sich sowohl die finanzpolitische Sprecherin der Fraktion, Christine Scheel, als auch die Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, Bärbel Höhn, für Tempo 100 aus. Beide wollen allerdings – wie auch Rühle – das Tempolimit nicht zur Bedingung einer künftigen Koalition mit der SPD machen.

Führende Sozialdemokraten machten deutlich, was ihre Verhandlungsposition in dieser Frage ist. Der Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering brachte Tempo 160 bis 170 ins Gespräch. Zwischen seinem Geschäftsführer und den Grünen steuerte der umweltpolitische Sprecher der SPD, Michael Müller. Er sprach sich für ein generelles Limit von 120 bis 130 Stundenkilometern auf deutschen und europäischen Autobahnen aus. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Peter Struck, bezweifelte, daß Verhandlungen darüber noch Sinn machen. Wollten die Grünen ein Tempolimit durchsetzen, „dann müssen wir uns eben einen anderen Koalitionspartner suchen“.

Damit das nicht geschieht, will die Grünen-Geschäftsführerin Rühle jetzt für Disziplin in den eigenen Reihen sorgen. Sie erläuterte gestern, wie die Partei jetzt auf Linie gebracht werden soll, weil „es nicht günstig ist, wenn jeder mit einer anderen Stimme spricht“. Pressemitteilungen sollen in Zukunft mit dem Bundesvorstand abgeglichen werden. Argumentationshilfen zur Umwelt-, Sicherheits- und Bildungspolitik, nachzulesen in 16 bunten Broschüren, werden an die Partei verschickt. Allerdings existiert noch kein Leitfaden zur Verkehrspolitik, weil die Parteispitze die nächsten Angriffe des politischen Gegners eher beim Thema Drogen erwartet hatte. Auf diese Weise sieht Rühle die Partei gegen das nächste Eigentor gerüstet. Denn, so verriet sie, „auch die Bundestagsabgeordneten haben die Argumentationshilfe bekommen“. Thorsten Denkler, Dieter Rulff

Tagesthema Seite 3, Kommentar Seite 12

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