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Viele Schüler hätten lieber Noten

Heute gibt es Zeugnisse. Statt Noten erhalten fast 40 Prozent der Zweitkläßler verbale Beurteilungen. Doch so manchen Eltern und Schülern wären Noten lieber. Der Drang nach vorzeigbaren Leistungen dominiert  ■ Von Julia Naumann

Malte * ist ein schwacher Schüler. Doch das Zeugnis, daß der Drittkläßler heute bekommt, klingt gar nicht so schlecht. Da heißt es zum Beispiel: „Malte hat gute Fortschritte gemacht und ist beim Lesen sicherer geworden. Er schreibt gerne eigene Phantasiegeschichten.“ Aber auch: „Ihm fehlt es häufig an Ausdauer. Malte zeigt Ansätze, andere herabzusetzen. Er muß in Mathematik noch sehr fleißig üben.“ Malte sei, so sagt seine Lehrerin Ingrid Kornmesser, ein typischer „Vierer-Kandidat“. Also schwache Noten in fast allen Fächern, wenig Konzentration und soziale Kompetenz. Eine Vier oder gar eine Fünf findet sich jedoch nicht in seinem Zeugnis, denn Malte wird von seiner Lehrerin lediglich verbal beurteilt. Dazu gehört der Stand der Lernbereitschaft und das erreichte Arbeitspensum. Das Verhalten gegenüber den MitschülerInnen wird erläutert, und schließlich folgt eine ausführliche schriftliche Beurteilung der einzelnen Unterrichtsfächer.

Kornmesser, die seit 1991 in einer Grundschule in Weißensee unterrichtet und vorher jahrelang an einer Integrationsschule in Schöneberg arbeitete, ist von schriftlichen Zeugnissen nicht nur in der ersten Klasse überzeugt. Denn: „Noten bauen Hierarchien in der Klasse auf“, hat sie beobachtet. Sie veränderten das Klima in der Klasse entscheidend. Mehr Konkurrenz würde sich unter den SchülerInnen entwickeln. Auch Peter Heyer vom Arbeitskreis Grundschule favorisiert die schriftliche Beurteilung. Denn Zeugnisse haben seiner Meinung nach eine doppelte Aufgabe: Sie müßten zeigen, was das Kind im Laufe eines Schuljahres dazugelernt hat, also die individuelle Lernentwicklung demonstrieren. Gleichzeitig sollten sie einen Bezug zu den schulischen Anforderungen herstellen, also was kann das Kind im Vergleich zu den MitschülerInnen. Und diese beiden Anforderungen, so Heyer, könnten Ziffernzensuren nicht erfüllen. So müßte ein lernbehindertes Kind, das im Schuljahr große Fortschritte gemacht hat, eigentlich eine gute Note bekommen, ein hochbefähigtes Kind aber, das über das Schuljahr demotiviert und faul war, eine schlechtere. „Ziffern können diese Entwicklung nicht ausdrücken“, sagt Heyer.

Doch die Möglichkeit, ein ausgeschriebenes Zeugnis statt schnöder Zahlen am Jahresende an die SchülerInnen zu verteilen, wird nicht mehr so häufig genutzt. Nach Angaben der Senatsschulverwaltung wurden in diesem Schuljahr 39 Prozent der ZweitkläßlerInnen verbal beurteilt, 1995/96 waren es aber noch 42 Prozent. Bei den DrittkläßlerInnen sind es in diesem Schuljahr nur 9 Prozent, vor drei Jahren waren es noch 10 Prozent. Dabei liegen die westlichen Bezirke in allen Alterstufen in der verbalen Benotung weit vorne. Dies dürfte daran liegen, daß in der DDR von der ersten Klasse an Zensuren erteilt wurden.

Derzeit bekommen grundsätzlich alle SchülerInnen in der ersten Klasse eine verbale Beurteilung. Ab der zweiten Klasse können die Eltern entscheiden, wie ihr Kind benotet wird. Ist der Lehrer oder die Lehrerin einverstanden, reicht eine einfache Mehrheit der Eltern für eine verbale Beurteilung aus. In der dritten und vierten Klasse müssen schon zwei Drittel der Eltern zustimmen. In der fünften und sechsten Klasse wird mit einigen Ausnahmen immer per Ziffer benotet.

Die Gründe für das sinkende Interesse sind vielfältig. Kornmesser und Heyer sehen vor allem den „steigenden Druck der Leistungsgesellschaft“ als Hemmnis. Doch: Verzicht auf Noten hieße nicht Verzicht auf Leistung, sagt Heyer. Eltern wollten jedoch immer häufiger eine eindeutige „Signalfunktion“, wie das Kind die Schule bewältige. Ingo Strutz, Schulleiter an der Mosaik-Grundschule in Mitte, hat beobachtet, daß die Eltern auch deshalb dagegen stimmten, weil sie selbst nie verbal benotet wurden. „Die eigene Erfahrung spielt dabei eine große Rolle“, sagt er. Ähnlich sieht das Peter Heyer vom Grundschulverband: „Wir alle sind fast ein bißchen süchtig nach derart vereinfachenden Fremdurteilen.“ Und rückläufig ist die schriftliche Beur teilung auch deshalb, weil die LehrerInnen sie oft nicht wollten. Denn: Die Beurteilung ist natürlich wesentlich komplexer und nimmt auch während des Schuljahres viel Zeit in Anspruch. Ein schlichte Note einmal im Monat im Beurteilungsheft der LehrerInnen reicht dafür nicht aus. Pro Kind brauche man rund vier Stunden für das Schreiben eines Zeugnisses, sagt Lehrerin Elke Frist von der Mosaik-Schule.

Gewisse Regeln müssen dabei beachtet werden: So dürfen die Kinder durch die schriftliche Beurteilung nicht negativ offen oder versteckt gewertet werden, so Peter Heyer. Der Leistungstandard solle aber ohne Schönfarberei dargestellt werden, sich aber auch nicht wie eine Mängelliste lesen. Die Informationen, die für die Lernentwicklung charakteristisch sind, sollten verständlich, kurz und präzise für Eltern und Kinder beschrieben werden. Für Kinder und Eltern nichtdeutscher Herkunftssprache ist das dennoch oft ein Problem, sagt Heyer. Deswegen verzichteten LehrerInnen mit hohem Ausländeranteil

häufig

auf

verbale Beurteilungen. Zensuren, so hat Heyer beobachtet, seien ökonomischer und erlaubten eine „kühle Kommunikation“, ein distanzierteres Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern.

Doch – und da herrscht unter den PädagogInnen weitgehend Einigkeit – hat eine verbale Beurteilung auf jeden Fall die Konsequenz, daß sich die LehrerInnen intensiv mit den Kindern beschäftigen. „Und das ist richtig gut, weil wir sie dadurch besser betreuen und erziehen können“, sagt Elke Frist. Sie hat beobachtet, daß die Kinder ohne Noten „liebevoller“ miteinander umgingen. Da gebe es bei schlechteren Leistungen eben nicht so schnell „Blödis und Doofis“.

Die Kinder sind von den verbalen Noten jedoch nicht so begeistert wie ihre Lehrerin. Bei vielen dominiert der Drang nach vorzeigbaren Leistungen. In der 5d der Mosaik-Grundschule, wo in der Hälfte aller elf Klassen bis zur vierten Stufe verbal benotet wird, sind die SchülerInnen fast auschließlich für „harte Ziffern“. „Da hat man etwas Handfestes in der Hand“, sagt die 10jährige Jenny. „Das ist was fürs Leben, wo ich immer noch mal nachgucken kann.“ Sie hätte auch viele Sätze des verbalen Zeugnisses nicht verstanden. Hannes findet dagegen, daß der „Ansporn“ bei der Notengebung viel größer sei, als so ein „beschriebenes Blatt Papier“. Bei einer Zensur wüßte er genau, woran er sei. Und auch die Belohnung spielt eine große Rolle. Die Oma gebe eben eher Geld, wenn die Noten eindeutig seien und kein „Geschreibsel“.

Die Ablehnung der Kinder sei um so größer, um so bessere Leistungen die SchülerInnen brächten, hat Ingrid Kornmesser beobachtet. Die Lehrerin hofft deshalb, daß der Drittkläßler Malte heute nicht ganz so enttäuscht von seinem Zeugnis ist, sondern es ihn vielleicht anspornt, im nächsten Schuljahr bessere Leistungen zu erbringen.

* Name geändert

Die Schulverwaltung bietet für Schüler und Eltern heute von 10 bis 13 Uhr wieder Sorgentelefone bei Problemen mit den Zeugnissen an: 42144631 für Grund- und Sonderschulen, 42144596 und 42144590 für Haupt- und Realschulen, 42144588 für Gesamtschulen sowie 42144287 und 42144504 für Gymnasien sowie für den Bereich Berufsbildende Oberschulen 42144224 und 42144269

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