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Keine Gnade mit Sozialmietern

Behördenerlaß senkt Wohngeld für Sozialhilfeempfänger. Mietervereine befürchten Vertreibung und Obdachlosigkeit  ■ Von Sven-Michael Veit

Diese Stadt, sagt Eve Raatschen, „produziert neue Obdachlosigkeit“. Dieses Papier, ergänzt Helmuth Schmidtke, „ist der Aufruf zu Ausgrenzung und Vertreibung von Sozialmietern“. Was die Juristin des Vereins Mieter helfen Mietern und den Vorsitzenden des Hamburger Arbeitskreises Wohnraumversorgung so aufregt, ist ein internes Rundschreiben der Hamburger Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (BAGS) vom 15. Mai dieses Jahres.

In den an die Sozialämter der Hansestadt verschickten sechsseitigen „Konkretisierungen zum BSHG“ (Bundessozialhilfegesetz) hat die Amtsleiterin Soziales in der BAGS, Elisabeth Lingner, neue und niedrigere Richtwerte für die Übernahme von „angemessenen Kosten der Unterkunft“ von SozialhilfeempfängerInnen festgelegt: Für einen Ein-Personen-Haushalt zum Beispiel ist danach mit Wirkung zum 1. Juni die „Akzeptanzgrenze“ von bisher höchstens 805 Mark pro Monat inklusive Nebenkosten auf „maximal“ 621 Mark gesunken.

Damit, hat Eve Raatschen ausgerechnet, findet selbst eine 1997 erbaute Sozialwohnung nur dann Gnade vor dem Lingner-Erlaß, wenn sie besonders klein ausfällt. Denn die Amtsleiterin, die als ehrenamtliche Präsidentin der Nord-elbischen Evangelischen Synode auch außer Diensten ein christlich Herz für die Schwachen in der Gesellschaft hat, legt als „angemessene Wohnungsgröße“ für Singles „eine Gesamtwohnfläche bis 45 qm“ fest, für jede weitere Person sind zusätzliche zehn Quadratmeter sozialamtlich vorgesehen.

Das führt zu der „verwirrenden Situation“, so Raatschen und Schmidtke, daß vom Wohnungsamt ausgestellte Berechtigungen („§5-Schein“) für 50-Quadratmeter-Wohnungen gelten, Hamburgs Sozialämter aber Wohnungen über 45 Quadratmeter Größe nunmehr ablehnen müssen. Denn Ausnahmen sind nach Lingners Rundschreiben, das nach Auskunft des BAGS-Pressesprechers Stefan Marks „verbindlichen Charakter“ hat, „nur in besonders begründeten Einzelfällen“ möglich. Dazu zählen „dauerhafte Erkrankung, Behinderung oder Schwangerschaft“. In Fällen von „sozialhilferechtlich unangemessener Unterkunft“ könne den Betroffenen eine Untervermietung oder auch ein Wohnungswechsel zugemutet werden.

Daß das keine leere Drohung ist, beweist ein Bescheid des Sozialamts Billstedt vom 10. Juni. Darin wird einem „Sehr geehrten“ Herrn Sozialhilfeempfänger „bis längstens 30.9.98 Zeit gegeben, sich um günstigeren Wohnraum zu bemühen“. Sollte er das Ultimatum verstreichen lassen, „können KEINE Wohnungskosten mehr berücksichtigt werden“.

Dann, sagt Eve Raatschen, „setzt die Spirale ein: Mietschulden bis zur Kündigung“. Die Sozialbehörde müsse „ihre absurden Lottozahlen, die mit den faktischen Mieten auf dem Hamburger Markt nichts zu tun haben, umgehend zurücknehmen“. Sonst drohe bald „die Überbelegung von Obdachlosenunterkünften“.

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