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Das neue Spiel der Zaungäste

Die 78er-Generation hat lange genug zugeguckt. Jetzt stehen sie vor der Einwechselung. Aber sind die Spieler wirklich fit? Taktische Überlegungen zu Gerhard Schröder und Jost Stollmann und zum Politikverständnis der Spaziergänger von Brokdorf und anderswo  ■ Von Harry Nutt

Ende der 80er Jahre konnte man leicht in eine Szene wie diese geraten: In einer geräumigen Wohnung in Berlin-Steglitz hatten sich rund 30 Personen im Alter zwischen 28 und 40 Jahren versammelt. Champagner und Häppchen wurden gereicht, es herrschte die beliebige Freundlichkeit einer Vernissage. Aus dem Gemurmel heraus vernahm man plötzlich die entschlossene Stimme einer Frau: „Also, ich bin die Dagmar, und ich denke, wir fangen jetzt mal an.“

Ein Spiel wurde gespielt, das später unter dem Namen Pilotenspiel Berühmtheit erlangte. Ziel des Spiels war die Bildung imaginärer Flugzeugbesatzungen, bestehend aus einem Piloten, zwei Ko- piloten, vier Crew-Mitgliedern und acht Passagieren. Die Maschine hob vom Boden ab, wenn die Passagiere für ihr Ticket je 3.000 Mark an den Piloten bezahlt hatten. Der Pilot nahm die 24.000 Mark und schied aus der Runde aus, während sich die restlichen Besatzungsmitglieder auf zwei neue Flugzeuge verteilten. Die Kopiloten konnten nun ihrerseits auf die Geldvermehrung hoffen. Allein in Berlin schätzte man Ende 1987, als das Spiel Konjunktur hatte, mehrere hundert solcher Spielrunden mit einigen tausend Mitspielern. Man feierte den eigenen Weg nach oben und genoß den Kitzel eines überschaubaren Risikos. Tatsächlich stürzten zum Ende des Spielrauschs, der sich zeitgleich mit dem New Yorker Börsencrash vom Oktober 1987 ereignete, viele Mitspieler ab. Einige Piloten waren fair genug, die bereits kassierten Einsätze oder zumindest einen Teil davon zurückzuzahlen. Beim Pilotenspiel ging es vor allem um ein So-tun-als-ob, eine Haltung, die die ganze Altersgruppe kennzeichnete. Nicht wenige sprachen ihnen politische Positionen ab.

Die meisten Mitspieler gehörten den Nach-68ern an, die Reinhard Mohr als „Zaungäste“ und als 78er-Generation beschrieben hat. Von der Phase des politischen Aufbruchs von 1968 zwar noch gestreift, aber nicht mitgerissen, hatten sie ihre prägenden Erlebnisse an den Bauzäunen des Kernkraftwerks von Brokdorf und der Startbahn West. Die nukleare Katastrophe und das Ozonloch wurden zu Referenzpunkten einer Altersgruppe, die sich neben Umweltängsten ausgedehnte Aufenthalte an der Universität und lange Weltreisen leistete. Die 78er befanden sich in einer Art gleitender Lebenszeit. In der Mitte ihres problemlosen Lebens mußten sie wenig später allerdings erkennen, daß der Arbeitsmarkt sie nur bedingt zuließ. Das führte nur in Ausnahmefällen zu existentiellen Dramen. Die 78er entwickelten eine beachtliche Meisterschaft der Wechselkompetenz und verharrten einstweilen in der Mittellage in Wartestellung.

Zwar hatte dieser Generationstypus wiederholt versucht, zum politischen Akteur zu werden, aber auf eigentümliche Weise fand er sich schnell in der Situation wieder, seinem eigenen Tun distanziert zuzusehen. Schon am Abend der politischen Kämpfe lieferte die Tagesschau die Schlachtberichte – Bilder eines langen Winterspaziergangs in der Wilster Marsch. Der „Erfahrungshunger“ (Michael Rutschky) ließ die 78er gefährliche Augenblicke in Nicaragua und tiefe Gefühle in Poona erleben. Sie waren die Protagonisten einer alltäglichen Postmoderne, deren ästhetische Kategorien wie Unbestimmtheit, Fragmentierung und Ironie die prägenden Merkmale ihrer Sozialisation waren.

Jost Stollmann (43), der designierte Wirtschaftsminister im Kabinett von Gerhard Schröder, ist ein typischer 78er. Mit einem Startkapital von 500.000 Mark, die ihm sein Vater zur Verfügung gestellt hatte, gründete er 1984 das Unternehmen CompuNet, das 1997 knapp zwei Milliarden Mark Umsatz machte und rund 3.000 Mitarbeiter beschäftigte. In seiner Firma wehte von Anfang an der Geist des Pilotenspiels. Diskutieren wie in der Wohngemeinschaft, Leistung zeigen, Spaß haben und nebenbei Geld anhäufen. So ist ein 78er dann doch noch erwachsen geworden. Auf Geld sei es ihm aber nicht angekommen, sagte Stollmann kürzlich im Spiegel-Interview. „Meine Kompaßnadel versucht, nach Großartigkeit zu gehen.“ Glaubte man, diesen Unternehmertypus eben noch als „global player“ charakterisieren zu können, der mit rücksichtlosen Geschäften ganze Finanzsysteme zum Einsturz bringt, so ist nun vorstellbar, daß er als älter gewordener Yuppie Greenpeace unterstützt, seinen Familienurlaub im Schwarzwald macht und am liebsten Kurt Cobains Nirvana hört. Stollmann wurde für seine nicht völlig SPD-kompatiblen Bemerkungen zur Arbeitsmarktpolitik und die Verzichtbarkeit von Betriebsräten schnell gescholten. Die Kippschaltung von kurzärmeliger Unternehmensführung auf hohe Politik hakt offenbar noch. Sein Wirtschafts- und Politikverständnis folgt ohnehin mehr der Funktionslogik der Love Parade. Powern bis zum Umfallen, Netzwerke bilden und ständig in Bewegung bleiben. „Wir müssen Unternehmer haben, die aus ihren diskreten Sofas, Büros und Autos auch mal herauskommen.“

Trotz manch steiler Unternehmenskarriere und demonstrativen Bekenntnissen zu neoliberaler Politik haben die 78er ein eher skrupulöses Verhältnis zu wirtschaftlichem Handeln. Bloßes Geldverdienen ist bei ihnen ebenso verpönt wie ein rigoroser Moralkodex. Ihren Eltern wie den geistigen Verwandten aus der 68er-Bewegung müssen sie zuallererst beweisen, daß sie den Laden in den Griff kriegen können. Sie sind keine Visionäre, sondern Organisatoren und Regler. Ihre Affinität zum Spiel ist nicht pathologisch, ihre Risikofreude alles andere als zwanghaft. Als Bewegungsspieler unterscheiden sie sich vom Konstitutionsspieler, der weiterspielen muß. Sie hingegen besitzen die Fähigkeit, jederzeit aufhören zu können.

Die Fähigheit zum Abbruch und plötzlichen Feldwechsel ist eins ihrer Erfolgsgeheimnisse. Es gibt kein Lebenswerk, sondern aufeinanderfolgende Projekte. „Nehmen sie das Wort Scheitern aus ihrem ,spell checker‘ in ihrem Redaktionssystem heraus“, hat Jost Stollmann den Interviewern vom Spiegel empfohlen. Einer wie Stollmann scheitert nicht, er macht nur neue Erfahrungen. Folglich zog er sich im vergangenen Jahr aus seinem Unternehmen zurück, um mehr Zeit für sich und seine Familie haben. Der Job des Wirtschaftsministers ist für ihn so gesehen ein Erlebnisangebot.

Der Berliner Soziologe Heinz Bude hat der Altersgruppe der heute um die 40jährigen angeraten, sich entschiedener in die Politik einzumischen. Die Zeit distanzierten Beobachtens ist vorbei. Von ihrer sicheren Position einer am Poststrukturalismus und Niklas Luhmanns Systemtheorie geschulten ironischen Reflexion aus sollten sie sich beteiligen an einem offenen Prozeß des Herumprobierens und Verhandelns. Intellektuelle Kritik, so Bude, müsse sich von der Haltung des Sichrettens zu einer des Sichfestlegens übergehen (vgl. taz vom 2.4.1998). Die Zaungäste haben lange genug zugesehen, jetzt ist ihr definitorischer Einsatz gefragt. Die 78er sind die erste Generation, die die Chance hat, den Kapitalismus nicht mehr nur als Schicksal, sondern als Projekt zu begreifen. Unideologisch genug, sind sie in der Lage, auf eine prinzipielle Gestaltbarkeit des Kapitalismus zu setzen. An der Warenwelt interessiert sie weniger der Fetischcharakter als ihr Funktionieren. Der Politikbegriff der 78er orientiert sich nicht mehr an einem Fundus von Überzeugungen und Glaubensbekenntnissen, sondern an Probieren und Abbrechen, Scheitern und Gelingen.

Ob sich ein solcher Politikstil durchsetzen kann, hängt auch von Gerhard Schröder ab. Sein junger Mitstreiter aus der Computerbranche ist bislang nur eine Spielkarte in der Pokerpartie um die Macht. Während sein „Mann ohne Eigenschaften“ im Musilschen Sinne dem Standort Deutschland wirtschaftliche Tüchtigkeit beibringen soll, vertraut Schröder in Sachen Geistespolitik noch einmal der kritischen Reserve. Nichts hat das deutlicher gemacht als die pop-politische Inszenierung mit Gerhard Schröder und Jürgen Habermas im Berliner Willy-Brandt-Haus (vgl. taz vom 8.6.1998). Es geht um die gute Straßenlage des Schröder- Mobils. Allerhand illustre Gäste dürfen mitfahren. Die Gesellschaftskritiker auf der gepolsterten Rückbank bändigen die Kräfte des Neoliberalismus. Stollmann fungiert als Spoiler.

Das flotte Design ist allerdings von traditionellen Kräften durchwirkt. Schröder setzt auf die bekannten Rollenmuster und bittet den Unternehmer (Stollmann), die Intellektuellen (Habermas und Negt) und den Kulturschaffenden (Flimm) in sein Team. Er kokettiert mit unruhigen Geistern, aber baut letztlich auf die befriedeten Qualitäten von deren Profession. Interessanter als die unternehmerische Kompetenz des Jost Stollmann wäre aber die noch nicht zum Ende gekommene Erfahrung seiner Generation. Darin bestünde Schröders Chance 2000.

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