piwik no script img

Ein Mann hungert, um zu leben

Seit zwei Wochen hungert der Geschäftsführer der BKA, Jürgen Müller, für einen neuen Standort für das Zelt. Er ist kein Kämpfer, er will nur wissen, ob es ein Gewissen gibt  ■ Von Kolja Mensing

Jürgen Müller trägt eine rote Krawatte. Besonders aufregend sieht sie nicht aus, eher ein bißchen altmodisch – zu schmal und auch irgendwie zu kurz. Aber man guckt sie trotzdem die ganze Zeit an, weil sie der einzige Tupfer Farbe an dem Mann ist. Der Geschäftsführer der Berliner Kabarett Anstalt (BKA) wirkt blaß und müde: grau. So hat man sich einen Menschen vorgestellt, der seit fast zwei Wochen nichts gegessen hat. Allerdings hatte man sich auch vorgestellt, einen Menschen zu treffen, der kämpfen will. Einen Guerillero. Doch Jürgen Müller, der in den Hungerstreik getreten ist, weil sich die Verhandlungen mit der Berliner Senatsverwaltung über einen Platz für das BKA-Zelt immer weiter hinziehen, hat gar nichts Kämpferisches an sich: „Ich bin kein Gandhi.“ Traurig winkt er bei einigen Fragen einfach ab: „Ich habe schon gar keine Lust mehr, darüber zu reden.“

Ende April dieses Jahres war das BKA-Zelt vom Platz vor dem Kulturforum geräumt worden. Die Fläche sollte neu gestaltet werden. Man bot daraufhin Ausweichstellplätze an, die das BKA mit guten Gründen ablehnte: zu abgelegen oder zeitlich begrenzt. Die Zeit drängte, da die Veranstaltungen im BKA-Zelt den gesamten, nicht mehr ganz so erfolgreichen Spielbetrieb der BKA finanzieren – und es gibt Außenstände und Gläubiger, der Konkurs droht. Jürgen Müller brachte damals zum ersten Mal seinen Tod ins Spiel: Kurz nach der Räumung kündigte er an, er wolle aus dem Leben scheiden, wenn sich keine Lösung für das BKA-Zelt fände. Im Mai und Juni wurde darüber verhandelt, das Zelt auf den Schloßplatz zu stellen, und von Jürgen Müllers Tod war erst einmal keine Rede mehr. Doch dann wurden finanzielle Zusagen, die der Senator für Stadtentwicklung gemacht hatte, abgesagt, und die Verhandlungen kamen zu keinem Ende. Am 29. Juni hörte Jürgen Müller auf zu essen, vor ein paar Tagen scheiterte dann die Vertragsunterzeichnung zwischen dem Bezirk Mitte und der BKA – der Bausenat bestand auf „stadtplanerischer Zustimmung“. Jetzt muß neu verhandelt werden.

Man schaut auf Müllers rote Krawatte und möchte am liebsten an ein großes Mißverständnis glauben: an eine Berliner Politposse, die ins Kabarett gehört. Kabarett, wie Müller es seit 20 Jahren in dieser Stadt macht. Der heutige Geschäftsführer der BKA, der in der Nähe von Chemnitz aufgewachsen ist und nach drei erfolglosen Fluchtversuchen und einem Jahr Knast freigekauft wurde, kam 1969 nach Westdeutschland und 1974 nach West-Berlin. Eigentlich wollte er bei der „Vereinigung sozialistischer Künstler“ (VSK), einer Organisation der KPD, Theater spielen. Doch die steckte ihn erst einmal in den Erich-Weinert- Chor: „Ich kam ja aus Sachsen, und da dachten die, bevor ich auf die Bühne darf, muß ich erst einmal zur Sprecherziehung in den Chor.“ Aus einer linientreuen „Arbeitsgruppe Kabarett“ des VSK ging später das undogmatische „Kabarett des Westens“ hervor, mit dem Müller seit 1980 im Mehringhof spielte. Man löste sich auf, formierte sich neu, ein Zelt wurde gekauft, die Fabrikräume am Mehringdamm wurden angemietet – 1988 wurde die „Berliner Kabarett Anstalt“ gegründet.

Zehn Jahre BKA: ein komischer, wilder, manchmal zärtlicher und machmal bitterer Blick auf Stadt und Szene. Doch jetzt klingt Jürgen Müller noch nicht einmal zynisch, wenn er die Vorgänge um das BKA-Zelt kommentiert. Nur noch erschöpft: „Die Politiker führen sich auf wie eine Fürstenriege. Man wird zum Bittsteller.“ Und man wird zum Einzelgänger: denn seine Kollegen von der BKA, die in Pressemitteilungen von der „Kunst des Überlebens“ sprechen, sind nicht gerade erfreut über seinen Hungerstreik. Das mache alles nur noch schwieriger, erklärt eine Mitarbeiterin, und man habe ihn gebeten, soweit es geht, die Räume am Mehringdamm 34 zu meiden: „Wir wollen ihn hier nicht irgendwann raustragen.“ Auch das klingt nicht zynisch.

Der 45jährige Jürgen Müller hat weniger Zeit als andere Menschen, denn er ist HIV-positiv. Die nächsten Jahre, sagt er, möchte er das machen, was ihm Kraft gibt: Theater. „Ich will in dieser Zeit bestimmt kein Konkursverfahren durchziehen, für das ich noch nicht einmal verantwortlich bin, sondern in das mich Politiker dieser Stadt hineingedrängt haben.“ Müller will leben. Dafür setzt er sein Leben aufs Spiel: Er hungert, und er meint es ernst damit. Und selbst wenn er irgendwann mit dem Hungerstreik aufhören würde – jeder Tag, an dem er nichts ißt, schwächt seinen Körper und verschlechtert den Verlauf seiner Krankheit. Kann man das verstehen? „Nimm es einfach als selbstverständlich.“

Müller hatte seinen Hungerstreik zunächst nicht öffentlich gemacht, sondern nur dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und Kultursenator Peter Radunski mitgeteilt: „Von dort kam bisher nur die Reaktion – sinngemäß –, daß man sich nicht erpressen lasse“, sagt er. Aber er wolle ja auch niemanden erpressen: „Mich interessiert nur eine Frage: Gibt es ein Gewissen, oder gibt es keines? Und wann fängt es an zu funktionierern?“ Die Hoffnungen richten sich jetzt auf die Senatssitzung am 21. Juli. Das Thema „BKA-Zelt und Schloßplatz“ steht auf der Tagesordnung.

An diesem Tag wird Jürgen Müller 23 Tage lang nichts gegessen haben, rechnet man in Gedanken nach, während man sich mit den Augen an seiner roten Krawatte festhält. Eine Zeitlang herrscht Schweigen, man will sich gerade verabschieden. Da lächelt Jürgen Müller plötzlich und sagt noch einen Satz, einfach so: „Ich habe Hunger.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen