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Detailgenauigkeit im Dienste des Ungewissen

■ Unermüdlich brabbelnder Kleinstadttratsch: „Befreie uns“, ein Roman des Beckett-Freunds Robert Pinget, ist jetzt im Wagenbach Verlag neu aufgelegt worden. Das ist erfreulich

War es an einem Samstag, daß die Tragödie ihren Lauf nahm, als nämlich der kleine Jean-Claude von seinem Sandkasten weglief und flugs, dort vorn am Eck bei der Hausnummer zwölf, die nebenbei bemerkt schon längst hätte abgerissen werden sollen, von einem Lastwagen überfahren wurde, oder war es nicht doch jener Sonntag im Juli vor zehn Jahren, als der kleine Louis in den Wald lief, und den Mörder hat man bis heute nicht gefunden? Unermüdlich, unnachgiebig und ungenau ist der Tratsch in Robert Pingets Roman „Befreie uns“ am Werk, um alles, was seit Menschengedenken in dem kleinen Ort geschehen ist, zu einem großen Erzähl- und Erinnerungsbrei zu verrühren. Wir lauschen, indem wir lesen, einem vor sich hin brabbelnden Kollektiv, einer Art von äußerem Monolog, der in jedem Augenblick höchste Gewißheit und Detailgenauigkeit vermittelt, doch das Ergebnis der vielen Mühe ist die höchste Ungewißheit. Das klingt philosophisch und theoretisch, ist es in der Anwendung aber ganz und gar nicht.

„Befreie uns“ stammt aus dem Jahre 1968 und erschien auf deutsch erstmals 1970 in der Übersetzung von Gerda Scheffel unter dem Titel „Das Tumbagebet“. Robert Pinget, 1919 in Genf geboren und 1997 in Tours gestorben, vom Klappentext treffend als „untypischer Vertreter des Nouveau Roman“ bezeichnet (dessen typische Vertreter längst vergessen sind), ist das, was auf englisch „an acquired taste“ heißt. Um so erfreulicher, daß der Wagenbach Verlag in seiner Bemühung nicht nachläßt, diesen neben seinem Freund Beckett wohl schwärzesten Humoristen der Moderne dem deutschsprachigen Publikum nahezubringen.

Im übrigen werden sich die Freunde von Pingets bestem Roman, „Jemand“, freuen, hier einige der Bewohner der dort für die Handlung zentralen Familienpension wiederzufinden — unter neuem Blickwinkel, was, wie bei Pinget nicht anders zu erwarten, die Sache nicht unbedingt eindeutiger macht. „... er hat zu ihm gesagt unter uns seit dem Tod meiner armen Jeanne fange ich an zu leben, wir hatten überhaupt nichts mehr, stellen Sie sich vor, wenn sie nicht gestorben wäre hätte ich die Villa verkaufen müssen ...“ Walter Klier

Robert Pinget: „Befreie uns“. Roman. Aus dem Französischen von Gerda Scheffel. Wagenbach Verlag, 251 Seiten, 22,80 DM

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