Welches Kind ist arm?

■ Kinderforscher Lothar Krappmann über die unangenehmen Ergebnisse des X. Jugendberichts

taz: Unter Ihrer Federführung ist der Jugendbericht zustande gekommen. Demnach sind 12 Prozent der Kinder im Westen und sogar 22 Prozent der Kinder im Osten arm. Was heißt arm?

Lothar KrappmannEs gibt verschiedene Möglichkeiten, das zu berechnen, doch bei allen Berechnugen kommt heraus, daß eine große Zahl der Kinder in Armut lebt. Die niedrigsten Zahlen liegen bei ungefähr sieben oder acht Prozent. Ich finde, daß die Definition, wer unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient, ist arm, eine ist, über die man sich gut verständigen kann.

Damit mag sich Frau Nolte nicht abfinden. Sie sagt, wer Sozialhilfe bezieht, könne nicht arm sein. Übertreiben Sie also?

Diesen Satz würde ich so nicht akzeptieren. Möglicherweise ist das Leben eines Sozialhilfeempfängers gesichert. Wir gehören zu den Ländern, in denen Armut nicht bedeutet, um sein Leben kämpfen zu müssen. Sozialhilfe sichert auf sehr, sehr niedrigem Niveau die Möglichkeit, sein Leben zu führen. Aber gerade für die Kinder fehlt es in solchen Situationen doch oft am Notwendigsten.

Kann die gegenwärtige Regierung Verantwortung für diese Situation von sich weisen?

Ich denke, daß die Regierung beim Familienlastenausgleich und der Steuerreform Maßnahmen durchgesetzt hat, die den Familien nicht genug geholfen haben, sie sogar benachteiligt haben. Sicher hat nicht alles die Regierung zu verantworten, weil es ja auch Auswirkungen auf Beschäftigung und den Arbeitsmarkt gibt, die zwar auch von Rahmenbedingugen der Regierung abhängen, aber nicht nur.

Sie bezeichnen Deutschland als „multikulturelle Einwanderungsgesellschaft“. Wollten Sie damit die CSU provozieren?

Nein, wir haben den Bericht ja im wesentlichen 1997 geschrieben. Insofern konnten wir die aktuelle Diskussion um die CSU-Thesen gar nicht vor Augen haben. Wenn man sich in den Schulen, auf den Straßen und Spielplätzen dieses Landes umsieht, sieht man doch, aus wie vielen verschiedenen Ländern die Kinder kommen.

Die Bundesfamilienministerin sagt, Sie hätten den Bericht zu spät vorgelegt. Haben Sie sich nicht an die Terminabsprachen gehalten?

Das müssen wir leider zugeben. Wir wollten vergangenen Juli fertig sein, haben es aber erst diesen Februar geschafft. Frau Nolte hat immer gesagt, daß sie vier bis sechs Monate für eine Stellungnahme benötige. Darauf beruft sie sich jetzt, und insoweit kann man ihr keinen Vorwurf machen. Andererseits aber wußte das Ministerium ja, was auf es zukommt: Die Themen sind ja seit langem in der Diskussion. Interview: Volker Probst