: Sittenbilder und Kaschemmenführer
■ Einunddreißig Großstadtgeschichten zu einem Jahrhundert schwuler Großstadtgeschichte: Martin Ripkens' und Hans Stempels literarische Anthologie „Hyperion am Bahnhof Zoo“
„Berlin ist sicher nicht lasterhafter als Paris oder London oder eine andere Stadt der Welt, nur ist man hier teils weniger verschämt, teils weniger heuchlerisch.“ Für Curt Moreck war 1930 die Frage nach der schwulen Hauptstadt Deutschlands schnell beantwortet. Sein bis dahin einmaliger „Führer durch das lasterhafte Berlin“ offenbarte manch Ahnungslosem das weitverzweigte schwule Leben der Stadt mit seinen Hunderten von Kneipen, Treffpunkten, Tanzlokalen und wüsten Kaschemmen.
Schon drei Jahrzehnte zuvor hatte der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in der Einleitung zu „Berlins drittes Geschlecht“ (1904) sicherlich auch mit ein wenig Stolz festgestellt: „Wer das Riesengemälde einer Weltstadt wie Berlin nicht an der Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend erfassen will, darf nicht den homosexuellen Einschlag übersehen, welcher die Färbung des Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen wesentlich beeinflußt.“ Heute gehört die Christopher-Street-Day-Parade genauso zu den festen Sommerattraktionen der Stadt wie der Karneval der Kulturen und die Love Parade; und die Berlin Marketing GmbH lädt eigens schwule Journalisten aus dem In- und Ausland ein, um den bekanntermaßen reisefreudigen wie kaufkräftigen Homosexuellen die neue Hauptstadt schmackhaft zu machen.
Wie sich das schwule Leben Berlins literarisch niedergeschlagen hat, dem sind die beiden Herausgeber Martin Ripkens und Hans Stempel in ihrer Anthologie „Hyperion am Bahnhof Zoo“ mit Texten von 31 Autoren (von Alfred Döblin über Joseph Roth bis Detlev Meyer) nachgegangen. Ihr Streifzug führt von heimlichen Lieben in der kaiserlichen Kadettenanstalt Lichterfelde (Ernst von Salomon) über den Straßenstrich Unter den Linden in den 30er Jahren, die Verfolgung unter dem Nazi- Regime (Gad Beck, Heinz Heger) bis hin zum ganz normalen schwulen Gegenwartsalltag (Michael Sollorz, Napoleon Seyfarth). Dabei entsteht ein Kaleidoskop von Lebens- und Liebeserfahrungen unter Männern, das die Veränderungen homosexuellen Lebens in Deutschland widerspiegelt, aber auch eine bislang kaum beachtete Subkultur dieser Metropole.
Alfred Döblins Franz Biberkopf gerät in eine Politveranstaltung der Homosexuellen und läßt sich die Ungerechtigkeit des Paragraphen 175 erläutern: „Nach 10 Uhr konnte er nicht mehr an sich halten, er mußte sich drücken, die Sache und die Leutchen waren zu komisch, so viel Schwule auf einem Haufen und er mitten drin, er mußte rasch raus und lachte bis zum Alexanderplatz.“ Und der Krimiautor Frank Goyke läßt seinen heterosexuellen Kommissar einen schweren Gang gehen: es ist sein erster Besuch im schwulen Buchladen „Prinz Eisenherz“ in der Bleibtreustraße (übrigens der größte Europas). Das literarische Pendant zu Claus Morecks Reiseführer ist Klaus Manns „Der fromme Tanz“: ein fast reportagehafter Blick in das endlose Treiben des schwulen Nachtlebens in den zwanziger Jahren. Wo im Berliner Westen der Champagner fließt und die Transvestiten auf der Bühne ihre Boa flattern lassen, stehen sich einige Straßen weiter die Arbeiterjungs aus Mitte die Beine in den Bauch.
Der schwule Strich, ob am Tauentzien, Bahnhof Zoo oder Unter den Linden, fand über die Jahrzehnte immer wieder Eingang in die Literatur. Friedrich Kröhnke lieferte Ende der 80er Jahre poetisch verträumte und fast rätselhafte Miniaturen, Horst Krüger 1973 ein ironisches Sittenbild. Zu den bemerkenswerten Entdeckungen der beiden Herausgeber – neben den Beiträgen der wichtigsten zeitgenössischen schwulen Autoren in der Stadt – gehören einige Texte aus der Weimarer Republik. In dem Auszug aus dem Roman „Jugend auf der Landstraße“ von 1932 des Journalisten Ernst Haffner, über den es keinerlei biographischen Daten mehr gibt, hat es zwei Jungen vom Schlesischen Tor zum Wittenbergplatz verschlagen. Kichernd und staunend betrachten sie die pelzbestückten Passantinnen und die nach Parfüm duftenden Herren. Und schon sitzen sie in einem Abschlepp-Etablissement und erleben wenig später in einem Hotel ihr unerwartetes Debüt als käufliche Jungs. Ganz anders Walter Schönstedt. Der völlig vergessene Arbeiterdichter erzählt in seinem Roman „Motiv unbekannt“ von 1933 die andere Seite des Geschäfts mit der Lust: Er schildert den Alltag zweier Arbeitsloser, die der Hunger auf den Strich in der Friedrichspassage treibt. Axel Schock
Martin Ripkens, Hans Stempel (Hg.): „Hyperion am Bahnhof Zoo. Hautnahe Männergeschichten“. Deutscher Taschenbuch Verlag, 220 S., 19,90 DM
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