: Welche Medizin braucht der Mensch, welche Behandlungen müssen die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen? Die Diskussion um Viagra, die Wunderdroge gegen flauen Sex, zeigt exemplarisch, in welchem Dilemma die Gesundheitspolitik steckt Von Annette Rogalla
Neue Wunderpillen bleiben Luxus
Die Pille ist blau und verspricht, lendenlahme Männern munter zu machen: Viagra. In wenigen Wochen soll das Medikament in Deutschland zugelassen werden. „Viagra hat die Behandlung der Impotenz schlagartig revolutioniert“, jubilierte gestern Heribert Kaulen in Bremen auf der Pressekonferenz des Urologenverbandes. Um im nächsten Atemzug die Hoffnungen zu dämpfen: „Viagra ist kein Allheilmittel.“ In den vergangenen Wochen hat Kaulen in seiner Bremer Klinik 30 Männer mit Viagra behandelt – bei der Hälfte von ihnen schlug es an. Kein schlechtes Resultat, meint Kaulen. Besonders empfehlen könne er es jenen Männern, die etwa nach einer Krebsoperation an der Prostata unter Impotenz leiden.
Trotz der erfreulichen Ergebnisse werden sie in Deutschland Viagra wohl nicht auf Kassenrezept erhalten. Im Juni faßte der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen den negativen Beschluß. Ausnahmslos niemand soll die Potenzpille als Kassenleistung bekommen, dafür sei sie viel zu teuer. Kaulen und seine Kollegen haben das Votum achselzuckend akzeptiert. „Denn die Frage, ob Viagra eine Kostenexplosion für die Krankenkassen bringt, ist nicht zu beantworten“, sagt Kaulen.
In den USA wurden seit der Markteinführung bereits 2,7 Millionen Rezepte ausgestellt, Hersteller Pfizer erzielte bis Juni einen Umsatz von umgerechnet 411 Millionen Mark. Viagra steht am Anfang einer Lawine. Eine ganze Reihe völlig neuer Medikamente drängt auf den Markt, die hohe Nachfrage genießen und die gesetzlichen Krankenkassen in die Bredouille bringen werden. Lifestyle-Arzneien werden diese Produkte genannt, Mittel, die nicht nur eine tatsächliche Erkrankung kurieren, sondern auch Gesunden das Leben behaglicher machen. Xenical und Reductil, zwei Mittel gegen Fettsucht, stehen kurz vor der Zulassung. Propecia soll bei Männern wieder Haare wachsen lassen. Eine Pille, die den Alterungsprozeß aufhält, wird folgen.
Schlanker, schöner, stärker. Jede Generation kriegt die Pillen, die sie zum Lebensglück benötigt. In den 60er Jahren malte Valium die Welt der Hausfrau und Mutter mit Nebenerwerbsjob rosarot. Seit den 80er Jahren verabreichen Ärzte das Mittel Prozac beziehungsweise Fluctin als Wunderdroge gegen flauen Sex und wenig Selbstbewußtsein. Millionenfach werden Antidepressiva von psychisch gesunden Menschen geschluckt. Auf Kosten der Kassen. Gingen 1993 in Deutschland noch 130.000 Fluctin-Schachteln über den Apothekertresen, waren es 1994 bereits 240.000, mit einem Umsatz von 26 Millionen Mark.
Bei Medikamenten, die Gesunden wie Kranken gleichermaßen verordnet werden, wurde bislang wenig danach gefragt, ob es gerechtfertigt ist, die Solidargemeinschaft mit den Kosten zu belasten. Seit dem Siegeszug von Viagra ist das anders. Die Ablehnung des Bundesausschusses könnte eine Wende in der Gesundheitspolitik markieren. Ein Mittel, dessen therapeutischer Nutzen außer Frage steht, wird Patienten verweigert – aus Furcht, zu viele könnten danach verlangen. Das medizinische Fachpersonal scheute sich auch nicht, falsche Zahlen in die Diskussion zu streuen. Bis zu acht Millionen Viagra-Bedürftige könnten sich möglicherweise auf Kosten der Kassen lange Nächte machen, hieß es. Nun räumt selbst Wolfgang Zacher, zweiter Vorsitzender des Urologenverbandes, ein, daß die „Grauzone bei dieser Hochrechnung ganz erheblich“ ist. Im medizinischen Sinne impotent und behandlungsbedürftig seien etwa 60.000 bis 80.000 Männer.
Die Viagra-Blockade zeigt exemplarisch, in welchem Dilemma die Gesundheitspolitik steckt. Wo endet eine medizinische Behandlung, wo beginnt der reinste Hedonismus? Solange die Kassen prall gefüllt waren, wurde die diffizile Frage übersehen. Mit jedem neuen Präparat, das jetzt auf den Markt kommt, stellt sie sich neu. Die Experten suchen händeringend eine Antwort. Für Pharmaspezialist Jan Geldmacher (siehe Interview) gilt der Leistungskatalog der Krankenkassen als Richtschnur: Fettleibigkeit kommt darin ebensowenig vor wie hormonell bedingter Haarausfall. Deswegen müssen Lifestyle-Arzneien nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Möglich, daß die Haarwuchspille Propecia die Gemeinschaft nicht belasten wird. Die Herstellerfirma ließ wissen, sie habe kein Interesse an einer Kassenübernahme. Hoffmann-LaRoche verfolgt eine andere Strategie. Xenical, die Kaspsel gegen die Pfunde, soll mit Macht auf den Markt gebracht werden. Fettleibigkeit sei ein chronisches Leiden und eine der Hauptursachen für Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, Diabetes und Krebs, sagt Roche-Sprecher Hans-Ulrich Jelitto. Xenical könne eine große Rolle bei Fettleibigkeit spielen, „eine Krankheit, für die es ansonsten kaum eine Therapie gibt“. Dicke sollen mit Hilfe der Kapsel ihr Verhalten ändern. Wer Xenical schluckt und Eisbein ißt, bekommt die abführende Wirkung des Mittels prompt zu spüren. „Allein deswegen ist es kein Freibrief für alle, die ein paar Pfund abspecken wollen“, sagt Jelitto.
Trotz der abschreckenden Nebenwirkung scheint der Absatz gesichert. Roche schätzt, daß 1,4 Millionen Menschen in Deutschland mit einem Body Mass Index (BMI) von über 40 leben, neun Millionen sollen über dem BMI 30 liegen. Ab diesem Wert fängt aus medizinischer Sicht deutliches Übergewicht an.
Läßt ein gesunder Appetit und die Fähigkeit, Fett zu speichern, schon auf eine Krankheit schließen? „Die Entscheidung darüber muß der Arzt treffen“, sagt Frederike Kanne, Unternehmenssprecherin der Knoll AG. Die BASF-Tochtergesellschaft will mit Reductil auf den Markt. Das Medikament suggeriert dem Hirn ein Sättigungsgefühl. Als Ziel der Therapie nennt auch Knoll „eine langfristige Verhaltensänderung der Patienten“.
Ob Reductil, Xenical oder Viagra: Keinem Mittel spricht Gerd Glaeske, Pharmaexperte bei der Barmer Ersatzkasse, die Wirksamkeit ab, Krankheiten zu lindern. „Aber den Präparaten werden die Indikationen genommen. Die Industrie knüpft Versprechungen, Wünsche und Hoffnungen daran. So werden Situationen aufgebaut, die den Mißbrauch predigen.“
Kritiker werfen den Pharmakonzernen vor, nur noch in Bereichen zu forschen, die garantiert Gewinn abwerfen, unabhängig davon, ob die Mittel gegen Krankheit wirken oder lediglich das Leben angenehmer machen. Dieser Vorwurf läßt Martin Zündorf vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller nicht gelten. Von den 160 Projekten, die kurz vor der Zulassung stünden, seien nur drei den Lifestyle-Präparaten zuzurechnen. Die Pharmaforschung konzentriere sich hauptsächlich auf neue Aidsmittel, Krebsarzneien oder Präparate gegen Alzheimer. Komme bei einer Entwicklung allerdings heraus, daß ein Mittel gegen Demenz bei einem 20jährigen die „Hirnleistung verbessert, dann werden wir es nicht zurückhalten. Alzheimer hat doch nichts mit Lifesytle zu tun“, sagt Zündorf.
Welche Medizin braucht der Mensch, welche Behandlungen kann die Gemeinschaft garantieren? Für die Pharmaindustrie sind diese Fragen irrelevant. „Wir entwickeln innovative Produkte, die eindeutige Ergebnisse zeigen“, sagt Frank-Ulrich Bauer, Gesundheitsmanager bei Wyeth-Pharma. „Der Unternehmer muß vom Markt bestätigt werden.“ Die Entwicklung neuer Arzneimitel habe nichts mit Gesundheitspolitik zu tun. Bauer sieht „die Zweiklassenmedizin kommen“.
Das System der gesetzlichen Krankenversicherung beruht darauf, daß jeder Zugang zu allem hat, was medizinisch nötig ist. Deswegen habe eine Viagra-Klage gute Aussichten auf Erfolg, meint ein Krankenkassenmann, der nicht genannt werden will. Die blaue Pille sei humaner in der Anwendung als die Behandlung mit der Caverject- Spritze. Der Viagra-Hersteller Pfizer brauche nur einen impotenten Diabetiker zu finden, der danach verlange, weil er mit seiner Frau ein Kind zeugen will. Dem dürfe Viagra „nicht verwehrt werden“. Bald ist Viagra da. Hat eine Klage Erfolg, dürfen sich auch die Hersteller von Reductil und Xenical freuen. Zwar stehen Abmagerungsmittel nicht im Leistungskatalog der Kassen, aber übergewichtige Diabetiker könnten sie verlangen. Oftmals werden Diabetes- Mittel überflüssig, wenn der Kranke an Gewicht verliert. Und das hat nichts mit Lifestyle zu tun.
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