piwik no script img

Behinderte kritisieren Richter

■ Verbände monieren Gerichtsurteil, daß die Heimunterbringung einer Schwerstbehinderten aus Kostengründen für Rechtens erklärte. Sie fürchten, daß das Beispiel Schule macht

Mehrere Behindertenverbände haben gestern das Verwaltungsgericht scharf kritisiert. Eine „Katastrophe“ nannte Birgit Stenger von der Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben Schwerstbehinderter (ASL) die Entscheidung des Gerichts im Fall der 37jährigen, fast vollständig spastisch gelähmten Annemarie Stickel. Diese wollte per Gerichtsbeschluß das Spandauer Sozialamt verpflichten, die Kosten ihrer Pflege in der eigenen Wohnung zu übernehmen. Doch das Gericht lehnte den Antrag ab (taz von gestern).

„Das Urteil steht in völligem Gegensatz zum Grundgesetz, nach dem niemand wegen seiner Behinderung diskriminiert werden darf“, so ASL-Mitarbeiterin Stenger. „Wenn jemand seine Lebensform nicht frei wählen darf, ist das eine Diskriminierung.“ Ähnlich äußerten sich VertreterInnen der Behinderten-Liga und des Bündnisses für selbstbestimmtes Leben. Sie alle befürchten, daß besonders in Zeiten knapper Haushaltsmittel das Vorgehen des Spandauer Bezirksamts – nun juristisch abgesichert – Schule machen wird. Es ist die erste Entscheidung eines Berliner Gerichts seit der Änderung des entsprechenden Passus im Bundessozialhilfegesetze (BSHG) vor anderthalb Jahren.

Die schwerst pflegebedürftige Stickel, die fast ihr ganzes Leben im Heim verbracht hat, hatte sich im vergangenen August einen Traum erfüllt. Sie war – allerdings ohne zuvor eine Kostenübernahme des Sozialamtes einzuholen – in eine eigene Wohnung gezogen und wird seitdem von einem amubulanten Pflegedienst versorgt. Das Spandauer Sozialamt lehnte mit Rückendeckung von Bezirksbürgermeister Konrad Birkholz (CDU) die Übernahme der häuslichen 24-Stunden-Pflege für die schwerstbehinderte Rollstuhlfahrerin ab. Sie hätte monatlich etwa 21.000 Mark gekostet.

Das Amt wollte Stickel im Johannesstift unterbringen, was etwa 10.000 Mark billiger wäre. Monatelang übernahm die Pflegeeinrichtung „Ambulante Dienste“ die Differenz, mußte diese Unterstützung Ende Mai jedoch aufkündigen. Im Fall einer gerichtlichen Klärung sagte Bezirksbürgermeister Birkholz für deren Dauer die Kostenübernahme zu.

Die Verwaltungsrichter beziehen sich in ihrem Urteil auf den Artikel 3a im BSHG. Demnach kann ambulante Pflege verweigert werden, „wenn eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar und eine ambulante Hilfe mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist“. Nach Ansicht Stickels und ihrer Rechtsanwältin ist aber die Unterbringung im Johannesstift eben nicht zumutbar. „Im Heim hat meine Mandantin laufend unter Schmerzen gelitten, weil einfach nicht genügend Personal vorhanden war“, argumentiert Rechstanwältin Helga Wullweber. Besonders bei spastischen Anfällen und wenn Stickel zur Toilette mußte, habe sie nicht rechtzeitig, häufig und ausreichend genug Hilfe erhalten. Die Folge: Harnweg- und Magenentzündungen. „Außerdem hat sie psychisch gelitten, weil sie selbständig sein und nicht in einem Ghetto leben wollte“, so die Rechtsanwältin. Seitdem Stickel in der eigenen Wohnung lebt, gehe es ihr gesundheitlich besser, seitdem sei sie auch in einer Selbsthilfegruppe aktiv. Die erneute Heimunterbringung ist nach Wullwebers Auffassung „nicht zumutbar“. Schließlich sei der Personalschlüssel im Johannisstift nicht besser als in jenen Heimen, in denen Stickel früher untergebracht war.

Nach Einschätzung der Rechtsanwältin sehen die Verwaltungsrichter das „im Prinzip“ genauso wie sie. Aus dem Urteil geht in der Tat hervor, daß die beschriebenen gesundheitlichen Beschwerden nach Auffassung der Kammer „nicht zumutbar“ wären. Der Unterschied: Anders als die Rechtsanwältin sieht das Gericht es nicht als erwiesen an, daß die Beschwerden im Johannisstift erneut auftreten müssen.

Wullweber wird das überprüfen. Nach der Entscheidung des Gerichts muß ihre Mandantin – aus finanziellen Gründen und gegen ihren Willen – zum 1. August ins Heim. Die Rechtsanwältin will dann beim Verwaltungsgericht einen erneuten Eilantrag stellen. Sie ist optimistisch, daß das Gericht dann entscheiden wird wie das Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Das habe in einem sehr ähnlichen fall das Sozialamt zur Zahlung verpflichtet. Sabine am Orde

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen