: Abgeschottet unter Gleichgesinnten
Wahrscheinlich wird die Bundesrepublik Ende September einen anderen Kanzler haben. Ein streitbarer Wahlkampf findet trotzdem nicht statt. Liegt das daran, daß wir nicht mehr miteinander diskutieren – aus Angst, bei abweichender Meinung abgestraft zu werden? Eine Polemik ■ Von Bettina Gaus
Es müsse mich doch sehr interessieren, die Ansicht eines jungen Menschen über den Journalismus kennenzulernen, meinte der Praktikant im Bonner Büro der taz. Eine in mehrfacher Hinsicht aufschlußreiche Annahme: Zum einen ging der Mittzwanziger von der für ihn offenbar selbstverständlichen Voraussetzung aus, ich, ein Mensch Anfang vierzig, hätte nur selten Gelegenheit zu Begegnungen mit seinen Altersgenossen und müßte daher jede derartige Möglichkeit begierig nutzen.
Darüber hinaus mutierte er im Selbstbild vom Individuum zum Prototyp. Sein Geburtsdatum machte ihn in den eigenen Augen nicht nur zum Vertreter einer bestimmten Generation, sondern zugleich zum kenntnisreichen Experten über sie: Was er über den Journalismus denkt, so die Botschaft, das denkt „die Jugend“.
Nun ist es als Methode nicht neu, ganze Gruppen für Ansichten oder Verhaltensweisen einzelner in Haftung zu nehmen. Ein nigerianischer Schriftsteller, ein somalischer Rechtsanwalt und ein äthiopischer Wissenschaftler werden zu „den afrikanischen Intellektuellen“. Sind sie über ein Thema unterschiedlicher Meinung, dann „herrscht Uneinigkeit unter den afrikanischen Intellektuellen“. So unfreiwillig komisch manche dieser Verallgemeinerungen sind, so unvermeidlich sind sie zugleich. Anders läßt sich eine komplexe Welt nicht ordnen.
Die Methode wird um so gröber angewandt, je größer die Distanz zum in Rede stehenden Thema oder zur jeweiligen Gruppe ist. Was aber tun, wenn der Abstand zu jedem Punkt, der nicht der eigene Standort ist, unüberbrückbar geworden ist? Das ist heute in Deutschland bei jenem Teil der Bevölkerung der Fall, der nach traditionellem Verständnis ihre Elite bildet. Ausgerechnet in diesen Zeiten multimedialer Geschwätzigkeit kommunizieren diejenigen, die diese Gesellschaft zu steuern glauben, exklusiv mit sich selbst. Und das auch noch in eng gestecktem Rahmen – von der Streitkultur, die beherrschendes Merkmal der Bonner Republik gewesen war, ist nach der deutschen Vereinigung nicht viel übriggeblieben.
Das fällt vor allem bei einer Rückkehr nach längerer Abwesenheit auf. Sieben Jahre, bis 1996, habe ich in Kenia gelebt. Zunächst fürchtete ich, den Anschluß an die hiesigen Diskussionen nur mühsam finden zu können. Die Angst erwies sich als unbegründet. Es finden allenfalls intellektuelle Scheingefechte statt. An Randthemen wie der Rechtschreibreform oder dem Streit um das Kopftuch einer Lehrerin werden Ansichten über Untergang oder Fortbestand des christlichen Abendlandes entwickelt, während Grundsatzfragen undebattiert bleiben.
Dabei fehlt es nicht an klugen Analysen und streitbaren Positionen. Aber sie bleiben, zwischen Buchdeckel gepreßt oder in Zeitungsspalten gesetzt, weitgehend folgenlos. Es gibt keine Publikation mehr, die „man“ gelesen haben, keine Sendung, die „man“ gesehen haben muß, um mitreden zu können – weil ja nicht miteinander geredet wird. Nicht einmal Themen, die nun wirklich alle betreffen und viele mit Sorge erfüllen – wie die Einführung des Euro – lösen ernsthafte Kontroversen aus. Ein Gefühl der Lähmung und der Eindruck, eine wie immer geartete Entwicklung ohnehin nicht beeinflussen zu können, scheinen selbst jene zu erfassen, die eigentlich für Einflußnahme bezahlt werden: Politiker und Publizisten.
Inhaltliche Auseinandersetzungen werden im öffentlichen Raum ebenso vermieden wie im privaten. Prononcierten Meinungen wird nicht mehr getraut, nicht einmal mehr den eigenen. Statt dessen ringen immer mehr darum, sich einander auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner anzugleichen. Abweichende Meinungen werden mit Spott bedacht und skandalisiert, kaum je sachlich widerlegt. Im Parteienspektrum ist es vor allem diese Entwicklung, die für die Grünen derzeit so gefährlich ist.
Weniger die lautstarke Kritik des politischen Gegners droht ihnen zum Verhängnis zu werden als vielmehr der in den eigenen Reihen bei buchstäblich jedem Thema bestehende zaghafte Verdacht, der Gegner könne womöglich recht haben. Ein inhaltsleerer Wahlkampf wird derzeit von allen außer der SPD beklagt, die ihn zum Programm erhoben hat. Wagt sich jedoch irgend jemand mit irgendeinem Inhalt vor, dann bekommt ihm das weit schlechter als noch so große Beliebigkeit.
Private Gespräche erreichen mit anderen Methoden dasselbe Ergebnis. Heftige Diskussionen über ein Sachthema sind rar geworden. Statt dessen werden ironische Halbsätze und flüchtig hingeworfene Bemerkungen als Fühler ausgestreckt, mit denen geklärt werden soll, ob das Gegenüber die eigene Meinung teilt. Ist das nicht der Fall, wird das Thema eilig gewechselt.
Für die Scheu, sich mit einer eigenen Position angreifbar zu machen, gibt es Gründe. Noch immer wirkt der Schock über das Ende der bipolaren Welt nach: daß alle politische Sachkenntnis versagt hat, daß ein Heer von Experten vollständig ahnungslos war hinsichtlich der realen Zustände im Ostblock, daß sich folgerichtig auch alle Prognosen über die Zukunft als falsch erwiesen haben.
Unter der daraus entstandenen tiefen Verunsicherung leiden nicht nur die Altlinken, die jäh von moralischen Anklägern zu Angeklagten geworden sind. Auch die Konservativen hatten ja die Entwicklung nicht vorhergesehen. Jetzt müssen sie sich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß die Welt auch nach dem Ende des Kommunismus weder friedlich noch gerecht, noch sonst irgendwie schöner und besser geworden ist. Einen letzten Hort der Sicherheit bietet da die selbstgewählte Quarantäne im Kreise Gleichgesinnter.
Sie wird nicht einmal mehr als solche erkannt. Er liebe es, Wahlkampf vor Ort zu machen, sagt ein Spitzenpolitiker. Da lerne man so viel Neues. Gerade hat er mehreren Städten Blitzbesuche abgestattet, dort auf verschiedenen Plätzen und in verschiedenen Sälen leicht abgewandelt die immer gleiche Rede gehalten und danach jeweils noch ein paar Minuten lang einige Worte mit seinen Anhängern gewechselt und Autogramme gegeben. Und dabei viel gelernt? Der Mann hat bescheidene Ansprüche.
Zugegeben: Dieser Spott ist kleine Münze. Mit dem Vorwurf, daß die Politiker das Volk nicht mehr kennen, läßt sich leicht Beifall heischen. Dabei stehen die Politiker mit dieser Ignoranz doch nicht alleine da. Die Bevölkerung kennt sich selbst nicht mehr. Kein Zufall, daß Meinungsumfragen immer populärer werden. Die Jugendlichen, die Ostdeutschen, die Arbeitslosen, die Westdeutschen: keine Gruppe ist zu groß oder zu klein, um nicht erforscht werden zu müssen und sodann ratlos etikettiert und mißtrauisch beäugt zu werden.
Ironischerweise gehen Meinungsführer der Gesellschaft auch noch davon aus, die programmierte Abschottung von Teilen der Bevölkerung liege in deren eigenem Interesse und werde von ihnen gewünscht. Die Abgrenzung konsequent durchzuhalten ist gar nicht so einfach, aber es wird hart daran gearbeitet. Von erheblichen Personalproblemen berichtet die Mitarbeiterin einer Jugendsendung im Hörfunk. Die Sendung sei bereits vor einigen Jahren entwickelt worden und nun hätten mehrere Redakteure der Abteilung die Dreißig überschritten und damit dort nichts mehr zu suchen. Wohin mit ihnen? In der Tat: Bis zur Versetzung ins Seniorenprogramm muß dieser Philosophie zufolge doch noch einige Zeit ins Land gehen.
In Kenia ist vor einigen Monaten ein Rap-Künstler aus den USA aufgetreten. Da internationale Stars nur selten den Weg in afrikanische Staaten finden, war das Interesse aller Generationen und Bevölkerungsgruppen entsprechend groß. Das Konzert zeitigte Wirkung. Tagelang waren die Leserbriefspalten der großen Tageszeitungen voll mit einer öffentlichen Diskussion darüber, ob Moral, Tradition und Anstand durch derartige, in Kenia sehr ungewöhnliche Darbietungen verletzt würden oder nicht. Ein Kulturereignis führte zur kollektiven Selbstreflexion. Was müßte in Deutschland auf die Bühne oder ins Fernsehen gebracht werden, um eine solche Reaktion hervorzurufen?
Die hohen Quoten der nachmittäglichen Talkshows, in denen immer abstrusere Verhaltensweisen und Ansichten thematisiert werden, lassen sich nicht nur mit dem Bedürfnis nach Klatsch und einer weitverbreiteten Neigung zum Voyeurismus erklären. Dahinter steht auch der brennende Wunsch, Aufschluß darüber zu erhalten, was innerhalb dieser Gesellschaft heute die Norm ist und was als immerhin gerade noch akzeptabel zu gelten hat. Ein Tabu wird heute nicht mehr um der damit verbundenen Provokation willen gebrochen, sondern um herauszufinden, ob es als Tabu überhaupt noch existiert.
Sich darüber zuverlässige Kenntnis zu verschaffen ist vor allem deshalb schwierig, weil für viele die Kreise immer enger geworden sind, in denen sie sich bewegen. Manche kreisen nur noch um sich selbst. Alleinstehende sind mit Alleinstehenden befreundet, Familien mit Familien, Akademiker haben Umgang mit Akademikern. Nun haben alle Menschen stets die Nähe Gleichgesinnter und sozial Gleichgestellter gesucht. Aber früher konnte sich fast niemand exklusiv auf den Umgang mit jenen beschränken. Das ist heute anders.
Die Vermögensverhältnisse in Deutschland begünstigen die Entwicklung. Wissen ist Macht? Im Gegenteil. Nur wer die Macht hat, kann sich Unkenntnis leisten. Die Ohnmächtigen waren zu allen Zeiten über ihre Herrscher informiert. In Ländern der Dritten Welt, von denen deutsche Leitartikler auswendig nicht einmal die Namen der Staatschefs zu benennen vermöchten, finden sich Handelsvertreter und Lehrerinnen, die sachkundig die Wahlaussichten von Helmut Kohl und Gerhard Schröder zu erörtern imstande sind. Französische Bürger und Bauern kannten den Adel in den Jahren vor 1789 weit besser als umgekehrt. Marie Antoinettes berühmter Ausspruch, wenn die Leute kein Brot hätten, dann sollten sie doch Kuchen essen, ist historisch nicht sicher belegt – und dennoch wahr.
In Deutschland kann die Mehrheit jederzeit Kuchen essen, sofern sie dies wünscht. Fünfzig Jahre Frieden und wirtschaftliche Stabilität haben einen großen Teil der Bevölkerung zu einer Erbengemeinschaft werden lassen. Allein in den letzten sechs Jahren sind 1,2 Billionen Mark an privatem Vermögen vererbt worden – fast nur an Westdeutsche, aber sie sind ja ohnehin nach wie vor die Meinungsführer in Gesamtdeutschland.
Geld schafft den Freiraum, ärgerliche und langweilige Begegnungen zu vermeiden. Wo die Mittel knapp sind, wohnen Generationen auch heute noch enger beieinander, als vielen der Betroffenen lieb ist. Aber jene, die auf derlei Bereitschaft zur Anpassung angewiesen sind, sind nicht diejenigen, die den Ton angeben. Die können es sich leisten, sich Unannehmlichkeiten vom Hals zu halten. Nach Angaben des Statistischen Jahrbuchs für die Bundesrepublik verbringen Deutsche durchschnittlich weniger als eine halbe Stunde am Tag mit der Pflege und Betreuung von anderen, darunter Kindern. Rund zweieinhalb Stunden wenden sie dagegen für „Mediennutzung“ auf – zu deutsch: sitzen sie vor dem Fernseher. 837.000 von 1,8 Millionen Wohnungen in Berlin werden von Alleinstehenden bewohnt.
In der modernen Dienstleistungsgesellschaft lassen sich nahezu alle Schwierigkeiten des Alltags mit finanzieller Hilfe lösen. Das hat Folgen für den zwischenmenschlichen Bereich. Wer Hilfe braucht, zeigt damit, daß er sein Leben entweder schlecht organisiert hat oder materiell nicht auf Rosen gebettet ist. Beides ist in einer Leistungsgesellschaft der Imagepflege nicht eben förderlich. So nimmt es auch nicht wunder, daß Beratung und Lebenshilfe aller Art ein ständig expandierender Geschäftszweig geworden ist, der Aufgaben wahrnimmt, die früher dem sozialen Umfeld vorbehalten waren. Inzwischen auch schon per Internet: „Durch Online-Beratung erhalten Sie Hilfe bei psychischen Problemen, Suchtfragen, Lebenskrisen.“ Das Keyboard als letzter Rettungsring in menschlicher Not.
Immer größere Teile der Bevölkerung werden einander immer fremder. Besonders hoch sind die virtuellen Mauern um das Bonner Regierungsviertel. Über Parteigrenzen hinweg sind die Akteure – nicht nur Politiker, sondern auch Referenten, Pressesprecher und Journalisten – hier im Glauben an unauflösbare Sachzwänge miteinander ebenso vereint wie in der Überzeugung, der breiten Masse sei die Komplexität der Materie nicht mehr zu vermitteln. Es hat sich ein Code der Eingeweihten entwickelt, der nur von anderen Eingeweihten zu entschlüsseln ist.
Gleichzeitig wächst das Mißtrauen denen gegenüber, die nicht dazugehören. Die Xenophobie der politischen Klasse gilt inzwischen auch den eigenen Landsleuten. Von Helmut Kohl bis Joschka Fischer begründen Politiker kaum verbrämt die Notwendigkeit der europäischen Integration nicht zuletzt damit, daß sich nur so die Reaktionen der Deutschen auf ihre neue Stärke nach der Vereinigung in die rechten Bahnen lenken ließen. Als sei die Bevölkerung ein unheimliches Tier, das der Zähmung bedarf.
Das Schlagwort von der Informationsgesellschaft wird ausgerechnet von denen täglich widerlegt, die an ihren Schaltstellen sitzen. An das Interesse der Öffentlichkeit an politischen Sendungen glauben nicht einmal mehr die dafür zuständigen Redaktionen. Um die vermuteten Wünsche der breiten Masse zu befriedigen, nehmen sie Zuflucht zu Mätzchen. Der Moderatorin Sabine Christiansen gelingt es, mit Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine die wohl profiliertesten und meinungsfreudigsten Kontrahenten des Wahlkampfs ins Studio zu bekommen. Und statt die beiden reden zu lassen, wird in deutsche Kleinstädte geschaltet, wo die Frau und der Mann auf der Straße jeweils eine bohrende Frage stellen dürfen. Beispiel: „Was wollen Sie gegen die Arbeitslosigkeit tun?“
Dabei wäre doch nicht mehr als ein gelegentlicher Schritt vor die Tür für die Erkenntnis vonnöten, daß vielen Leuten die Häppchen nicht mehr reichen, die ihnen täglich als Information verkauft werden. Selbst Wahlkampfveranstaltungen unter regnerischem Himmel sind derzeit gut besucht. Bis zu drei Stunden harren Zuhörer in überfüllten Sälen aus, um Diskussionen von Politikern zuzuhören, sogar von solchen aus der zweiten und dritten Reihe – und ganz ohne Werbepause. Aber sie erfahren meist nicht mehr als die Schlagworte, die sie schon bis zum Überdruß kennen.
Alle Parteien hoffen derzeit für die Bundestagswahl auf die noch immer große Zahl von Unentschiedenen. Gut möglich, daß sie sich verrechnen und die Unentschiedenen ganz entschieden zu Hause bleiben. Schweigend.
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