Wider den Revolutionsgeist

Zur Zeit der industriellen Revolution entstanden die ersten Siedlungen – für die Arbeiterklasse. Das Ziel: Die Arbeiter ruhig halten und zur Bürgerlichkeit erziehen  ■ Von Kirsten Niemann

„Die hohen Häuserzeilen sind stucküberladen und ornamentiert, wie einstens nur die Paläste, und es scheint, als ob es ein herrliches Dasein wäre in einer solchen Stadt“, schrieb der Stadtbaukritiker Joseph August Lux 1908 über Berlin. „Beim näheren Zusehen aber entpuppt sich die ganze Großzügigkeit als Lüge und Maskerade. Ein einziger Blick in die Hofräume genügt, um das Elend der großstädtischen Wohnungsverhältnisse, das sich hinter dieser Scheinarchitektur verbirgt, zu offenbaren.“

Berlin, die größte Mietskasernenstadt der Welt. Nie waren Menschen schlechter untergebracht als während der industriellen Revolution. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg verteufelten die bürgerlichen Reformbewegungen die Mietskaserne, die die soziale Ungleichheit widerspiegelte. So gab es nicht nur qualitativ bewertete Wohnlagen: In Wilmersdorf wohnte man „gut“, in Schöneberg „mittel“, in Wedding und Prenzlauer Berg eher „schlecht“. Selbst innerhalb eines Blocks konnte man unterscheiden: Beletage versus Dach- und Kellerwohnung im dritten Hinterhaus etwa.

In England und dem Westen Deutschlands beschritt man andere Wege: Kanonenkönig Alfred Krupp beispielsweise wußte sehr genau, wie er die Arbeiter seiner Stahlkonzerne an sich binden konnte: Er baute ihnen kleine Häuschen, Werkswohnungen nicht weit von Zeche oder Industrieanlage entfernt. Zwar war das Leben mit einer großen Familie nicht immer komfortabel – denn mehr als zwei Räume hatten die Häuser nur selten. Dennoch sollten diese ersten Siedlungen malerische, eskapistische Paradiese sein, Kartoffelgärtchen und Karnickelstall inklusive.

Obwohl die Zeilenbauweise oft als Erfindung der reformbegeisterten zwanziger Jahre angesehen wird, gab es sie bereits beim Bau der Werksiedlungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Idee: gleiche Wohn- und Lichtverhältnisse für alle Bewohner. Die Formensprache in der Architektur der Werksiedlungen verlief parallel zu der in den Städten: Bis 1850 baute man klassizistische Kuben mit sparsamer Ornamentik, nach 1850 gab es neugotische Anwandlungen. Die 1870er Jahre waren die große Zeit der Backsteinsiedlungen.

Im späten 19. Jahrhundert fand ein grundlegender Wandel statt: Im Fahrwasser der Reformdiskussion um den romantischen Städtebau wurden die geometrisch-starren Bebauungspläne kräftig kritisiert. Die geraden Straßenfluchten schwanden zugunsten geschwungener Wegführungen und vor- und zurückspringender Häuser. Nischen, Erker und Gauben gliederten die Baukörper vielfältig. So wollte man die Arbeiterschaft zur Bürgerlichkeit erziehen. Die Arbeitersiedlung als Reduktion bürgerlicher Wohnarchitektur.

Doch schon wenige Jahre nach der Jahrhundertwende strebte man nach neuen, sachlichen Formen. Der Arbeitersiedlungsbau gewann in der Architektenszene an Bedeutung, wie der Wohnungsbau allgemein. Anerkannte Architekten wie Herman Muthesius, der als Begründer der deutschen Gartenstadtbewegunbg gilt, entwarfen plötzlich Siedlungen.

Erst der Erste Weltkrieg und die folgenden Revolutiuonsambitionen brachten Ansätze einer Wohnungsreform. Während die Zechenhäuser im Ruhrgebiet in einer ländlichen Umgebung gebaut wurden, die das Anlegen von Gärten ohne Probleme zuließ, galt die Berliner Gartenstadt als echte Alternative zur Mietskaserne: Frohnau, die Preußensiedlung und Staaken entstanden, mit dem für die Gartenstädte jener Zeit charakteristischen Hang zum Traditionalismus: Erker, Fachwerk, Spitzdächer und Spaliere waren begehrt, ebenso Anleihen aus der englischen Landhausarchitektur. Für die einfachen Bewohner jedoch waren diese Wohnungen nicht bezahlbar. Ebensowenig wie Bruno Tauts Großsiedlung Onkel- Toms-Hütte, gefeiert als eine der hervorragendsten architektonischen Leistungen der Weimarer Zeit. Denn ihr gelang es, die Ideen der Gartenstadtbewegung mit großstädtischen Elementen und rationalisierter Bauweise zu verbinden.

Auch den Nationalsozialisten war an einer gemeinnützigen Wohnungswirtschaft gelegen. Wichtiges Ziel der Stadtplanung: die Beseitigung des Nährbodens für den Kommunismus, nach dem Motto: Je schlechter die Wohnverhältnisse, desto günstiger die Bedingungen für staatszerstörerische Ideen. Um die dichte Ballung in der Innenstadt aufzulockern, waren gigantische Neubausiedlungen geplant, zum Beispiel die Wohnanlage am Grazer Damm. Flache Dächer, glatte Fassaden, große Fenster – alle modernen Elemente lehnten die Nazis ab. Agrarromantik und Großstadtfeindschaft führten zu einer unschönen, rückwärtsgewandten Formensprache: hohe Walmdächer, kleine Sprossenfenster und große, rechtwinklige Ehrenhöfe und monumentale Torbögen. Der Bewohner wurde zum kleinen Wurm im großen Gefüge der Architektur.

Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gaben den Stadtplanern Hoffnung, den häßlichen Mietskasernen endlich etwas Neues entgegensetzen zu können. Im Osten entstanden die Wohnpaläste der Stalinallee, im Westen folgte 1957 das Hansaviertel, eine Wohnanlage für den Mittelstand. Nicht etwa Klassenunterschiede, sondern allein die unterschiedlichen Lebenssituationen (Singles, Paare, Klein- und Großfamilien) führten zu einer differenzierten Wohnraumgestaltung. Die Zeit, in der eine Siedlung ausschließlich für die Arbeiterklasse gebaut wurde, war nun endgültig vorbei.