■ Unsere Nationalkultur besteht darin, nicht zu wissen, was deutsch ist. Wir brauchen das Fremde, um Rückschlüsse auf uns selbst zu ziehen: Mit leeren Händen
Die potentielle Gefahr des religiösen Fundamentalismus war für die baden-württembergische Kultusministerin Schavan die Grundlage ihrer Argumentation, als sie die Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin wegen ihres Kopftuchs nicht in den Schuldienst aufnahm. Frau Ludins individuelle Ansichten waren ihr weniger wert als der Kampf gegen die Windmühlen des Islamismus, den sie indes mit der Freiheit des einzelnen begründet. Frau Schavans Argumentation, das haben mittlerweile viele bemerkt, basiert auf einem Weltbild, dessen christlich-abendländischer Fundamentalismus unter dem Deckmäntelchen der staatlichen Neutralität hervorlugt.
Ihr Irrtum ist eigentlich verständlich. Man begegnet ihm in jeder Kultur. Stets ist das vermeintlich „Eigene“ zugleich das vermeintlich Normale. Daß man sich dieses Eigene zumeist nicht aus freien Stücken zu eigen gemacht hat, sondern daß es vielmehr gezielte Sozialisations- und Ausgrenzungsstrategien sind, die uns etwas zueignen, indem sie Vielfalt reduzieren, das kann man in einem Leserbrief des Schülers David Petschull nachlesen. Eine Deutschlehrerin fordert ihn und seine Mitschüler zum kollektiven Gebet auf. Im Religionsunterricht, so Petschull, habe er „nicht wirklich Information über verschiedene Religionen“ erhalten, sondern sei christlichen Manipulationsversuchen ausgesetzt gewesen. Wenn wir ehrlich sind, war es bei uns allen mehr oder weniger so wie bei David Petschull.
Ist es also normal, entsteht so das Eigene? Vielleicht in einem überholten Kulturbegriff. Heutzutage sollte es denen, die für unsere politische Willensbildung verantwortlich sind, eigentlich längst klar sein, daß dieses Eigene höchst fragwürdig ist, daß seine scheinbare Wertfreiheit und Normalität oft nur Ausdruck einer unbewußten Haltung ist.
Aber wer will schon in Wahlkampfzeiten die Unbewußtheit des Wählers stören? Die Politiker offenbar nicht. Bewußtsein unterwandert das Kollektivgefühl, es fördert die individuelle Entwicklung, und zur Zeit geht es vor allem darum, Massen zu mobilisieren.
Wir Wähler lassen dieses demagogische Spiel zu. Wenn Schwarzweißmalerei in Deutschland Erfolg hat, dann deshalb, weil eine große Anzahl von Deutschen gar nicht als Individuen, sondern als Masse angesprochen werden will. Elisabeth Noelle-Neumann hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: die Suche nach der Wärme kollektiver Geborgenheit sei eine ständige Gefahr für die Demokratie. Diese Gefahr ist vor allem seit der Wiedervereinigung mit ihrer angestrengten Nationalrhetorik größer geworden. Immer mehr wird seitdem an Gefühle appelliert, während praktisches Denken mit seinen unangenehmen Wahrheiten als kühl und emotionslos, im schlimmsten Fall als Vaterlandsverrat bezeichnet wird.
Politische Werbung gleicht daher immer stärker der kommerziellen Werbung. Beide wollen nicht das Denken fördern, sondern den Appetit. Beide funktionieren außerdem nach dem Motto „Kauft alle unser Produkt, wenn ihr besonders individuell sein wollt“. Individualität als Massengefühl – das erinnert an eine Szene aus dem Film „Das Leben des Brian“: Ihr seid doch alle Individuen? fragt Brian. Jaaa! schreien alle im Chor. Ich nicht! meldet sich einer. Psst! macht die Masse.
Wer nicht kaufen/wählen kann, der/die ist kein Individuum, sondern gehört zu einer in radikale Distanz zum Eigenen gesetzten Fremdgruppierung. Die Fereshta Ludins dieses Landes sind unser Spiegel, sie treten individuell in Erscheinung und stören damit unseren Massenindividualismus. Deshalb muß Fereshta Ludin mit einer Gruppierung – in diesem Fall den islamistischen Fundamentalisten – identifiziert werden. Andernfalls müßten wir zugeben, daß wir nichts über die Frau wissen, außer daß sie selbst niemanden zwingen will, ein Kopftuch zu tragen. Und wenn wir ein bißchen überlegten, kämen wir an den Punkt, an dem wir auch zugeben müßten, daß wir über uns selbst und über unsere schöne Nationalkultur nicht viel sagen können.
Da sind wir beim Kern des Problems angelangt: Kaum jemals im Laufe der Geschichte war es selbstverständlich, Deutsche/r zu sein, fast immer gab es Kriege um diese Angelegenheit, der letzte krönte alles mit einem Völkermord. Im Kalten Krieg war es dann so klar, wo wir standen (auf der Seite der Guten nämlich), daß man nicht fragte, wer wir waren. Die einzigen Störenfriede, die Akteure der 68er Bewegung, wurden schnell als homogene radikale Großgruppierung identifiziert und von der SPD- Regierung unter Willi Brandt per Radikalenerlaß entsorgt. Wehrhaft demokratisch!
Und jetzt, nachdem der Makel der Teilung mit der Wiedervereinigung behoben ist, sollen wir wieder ganz einfach nur Deutsche sein, so als ob immer schon klar gewesen wäre, was das ist. Kein Wunder, daß viele Menschen das vermeintlich Fremde brauchen, um Rückschlüsse auf sich selbst ziehen zu können. Das tut jeder, der sich seiner selbst nicht sicher ist. Und das Fremde ist immer entweder das allzu Individuelle oder das fremdländische. Die Grenzen sind hier fließend, denn eigentlich ist unser sogenanntes Ausländerproblem nur eine sekundäre Erscheinung eines deutsch-deutschen Konflikts. Und der lautet: Was heißt es eigentlich, deutsch zu sein, wenn alle so tun, als wüßten sie es und als wäre es etwas ganz Tolles, und man aber spürt, daß beides nicht die Wahrheit ist?
Die Antwort auf diese Frage ist alt: Höre auf zu suchen, und du findest die Lösung. Fereshta Ludin ist ein solcher Fund. Sie ist ein Teil dessen, was heutzutage deutsch genannt werden kann. Das gilt auch für „Mehmet“ und seine Eltern, es gilt für die PDS und alle, die irgendwie nicht normal sind. Wenn wir aufhören wollen, Deutschsein nur nach dem zu beurteilen, was es alles nicht ist, müssen wir uns zuerst eingestehen, daß wir bislang einer blutleeren Hülse aufgesessen sind, daß wir zu uns selbst rassistisch sind, wenn wir uns als Gen- Gemeinde und nicht als Kultur auffassen.
Dazu ist eine selbstbewußte ethische Haltung erforderlich, die sich gegen politische Machtineressen und Integrationsängste durchsetzen kann. Das bedeutet vor allem, das Recht des Individuums auf die freie Entfaltung als höchstes Gut zu handeln. Es bedeutet: Der Pluralismus hat keine Zahl, die vorher festgelegt werden könnte. Die oft gestellte Frage, wieviel Vielfalt die deutsche Kultur verträgt, ist absurd, wenn man bedenkt, daß Kultur nur in der Vielfalt bestehen kann. Steven Uhly
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