: Pralles Leben nach der Götterdämmerung
■ German Applied Arts: Das „Fabrikmuseum“ auf dem gigantischen Gelände der ehemaligen Nordwolle zeigt die Rekonstrutruktion einer Wanderausstellung des Deutschen Werkbunds von 1912/13 durch die USA
Einmaliges, einzigartiges Delmenhorst! Nicht nur, daß es die höchsten Kriminalitätsrate der ganzen Republik aufweist. Im Gegensatz zu Bremen zieren schon seit einem Jahr seltsame weiße Schilder die Hauptstraßen. Darauf prangt ein komisches bläuliches Gewölke, in dem – mit fragwürdigen graphischen Geschick plaziert – das Wort „EXPO 2000“ in gelber Farbe jauchzt. Die Schilder führen zum beeindruckenden 200 Meter langen Backsteinriegel, der in den Jahren 1889 bis 1910 nach Plänen von Wilhelm Weyhe und Henrich Deetjen beachtliche fünf Stockwerke hoch gezogen wurde. Auf dem dahinter liegenden Gelände der 1981 (zum zweiten Mal nach dem ersten großen Konkurs des Jahres 1931) dicht gemachten Kammgarnspinnerei „Nordwolle“ wird sich bis zum Jahr 2000 ein zeitgemäßer Lebensmischmasch eingenistet haben. Der wirbelt Arbeit, Bildung und Sozialleistungen mustergültig durcheinander. VHS, Stadtmuseum, Fabrikmuseum (seit September 1996), Open air-Jazzkonzerte, ein Möbelgeschäft, öffentliche Bildungsinstitute und private Werbefirmen, ein Bistro und – nicht zu vergessen – diverse Menschen sind in die zu Büro- und Reihenhäusern umgemodelten Fabrikhallen bereits eingezogen. (Auch das öffentliche Züchtigungswesen tut bereits seine Pflicht: Ein ordnungswidrig, keineswegs aber fußgängerbehindernd geparktes winzigkleines Motorrad entgeht nicht seiner gerechten Strafe von 30 Mark.) Betreutes Wohnen im Alter, Tele- und Multimediaarbeitsplätze sollen noch folgen. Eine Kleinstadt rüstet auf für den high tech-Dienstleistungskapitalismus. Bremen mit seiner EXPO-Bummelei hätte alles Recht der Welt neidig oder schamrot zu werden.
Aber neben Kriminalität und beachtlichen EXPO-Projekt zeichnet Delmenhorst noch etwas Drittes aus. Die ebenfalls längst untergegangenen „Anker-Linoleumwerke Delmenhorst“ (zusammen mit den beiden Delmenhorster Konkurrenten „Hansa-Linoleum“ und „Schlüssel-Merke“ einst Marktführer in Europa) legten sich als zweites deutsches Unternehmen Produkt- und Corporate design aus einer Hand zu. Der berühmte Architekt Peter Behrens (1868-1948) war es, der ab 1904 Linoleummuster, Logo, Musterkatalog und Briefpapier des Unternehmens entwarf – noch vor seinem legendären Engagement für AEG und die Farbenwerke Höchst. Und er war verantwortlich für den Auftritt der Anker-Linoleumwerke bei der auch international beachteten „Oldenburger Kunst- und Gewerbeausstellung“1905.
Behrens hierfür gebauter Pavillon ist zur Zeit als Sperrholz-Nachempfindung im Delmenhorster Stadtmuseum zu sehen. Das residiert seit Dezember 1997 im ehemaligen ersten Maschinenhaus der Nordwolle. Behrens benutzte für seine Fußbodenbeläge alle Stile: von strenger Geometrie über florale Jugendstilornamentik bis zum Knüpfteppich-Imitat. Im Hintergrund wabert Wagners „Götterdämmerung“: Museumsleiter Gerhard Kaldewei liebt es, mit Anspielungen, Vergleichen und Kontrasten zu jonglieren.
Der Pavillon ist Teil der Ausstellung „Das Schöne und der Alltag“. Doch nicht nur er ist eine Rekonstruktion; die ganze Ausstellung ist es. Unter dem Dach des 1907 ins Leben gerufenen „Deutschen Werkbunds“ gründete Folkwang-Museumsdirektor Karl Ernst Osthaus das „Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe“. Dessen Intention war es, sich als „geschmacksregelnder Faktor zwischen Händler und Käufer“ (Osthaus) zu schieben. Zur „dauernden Unterrichtung des Publikums“ schickte man bis 1919 Musterkollektionen in alle Provinzwinkel Deutschlands. Und 1912/13 organisierte das „Deutsche Museum“ in sieben amerikanischen Städten die 1060 Objekte umfassende Überblicksausstellung „German Applied Arts“. 1924 erwarb das Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld die Restbestände von Osthaus' „Deutschem Museum“ für 1.500 Schweizer Franken. Dort verstaubte der ganze Graphikteil bis 1980 auf dem Dachboden. Jetzt wurde die amerikanische Wanderausstellung rekonstruiert – und auf Wanderschaft geschickt. Nach den Designhochburgen Hagen und Krefeld macht sie in verkürzter Fassung in Gent und in Delmenhorst Station.
Was kann der Sinn einer solchen Ausstellungsrekonstruktion sein? Die Sammlung der Jahre 1912/13 ist vielleicht um einiges „postmoderner“ als es eine heutige Austellung – also nach Geschmackslenkung durch das 1919 gegründete Bauhaus – zum Thema frühes Design wäre. Seltsam rustikales Steingut von Richard Riemerschmid steht ganz nah bei einer weißen, melancholischen Porzellanfrau von Ernst Barlach oder protzig messingglänzenden Kerzenständern in Empirenachfolge, die wie eine Kreuzung aus Obelisk und Straßenlaterne wirken. Obwohl sich Osthaus mit zeitbedingtem Enthusiasmus für radikalen Antihistorismus und Sachlichkeit aussprach, entdeckt das heutige Auge viele Romantizismen.
Besonders umfangreich ist die Plakatsammlung. Im Turbinenhaus, dem lärmenden Herzen der brutalen Arbeitswelt, hängen sie, die Inkunabeln damaliger Konsumwelt: Bosch-Lampen, Kaffee Hag, Rotkäpchen Sekt. Unerwartet puristisch mutet heute der Verführungsstil der einstigen Werbepäpste Lucian Bernhard, Julius Klinger, Ludwig Hohlwein und Hans Rudi Erdt an: Produkt, Markenname und vielleicht noch ein genießender Kopf – das genügt. Keine witzigen Szenarien, keine werbenden Merksprüche.
Architekturfotos statten Bericht ab über Kaufhäuser, die eher orientalischen Haremspalästen in Kirchenschiffhöhe (die Teppichabteilung von Alfred Messels Warenhaus Wertheim) gleichen als einem Eldorado für Schnäppchenjäger. Raum war offensichtlich noch keine knappe Ressource. Auch der distinguerte, mahagoniehölzerne Luxus des Schnelldampfers „George Washington“ der Bremer „Norddeutschen Lloyd“ kann besichtigt werden.
Wie die Ausstellung in Amiland angenommen wurde, kann man im wunderschönen Katalog nachlesen. Die Hochachtung gegenüber deutschem Design spricht aus allen Zeitungsrezensionen: Die Lehre der Ausstellung „für die Vereinigten Staaten ist die, daß wenn wir nicht aufwachen und die Wichtigkeit der Entwicklung begreifen, Deutschland sich als Weltzentrum der Industriekunst etabliert haben wird“, so der „Newwark Sunday Call“ vom 1.9.1912..
Die neuartige Verflechtung von Kunst und Ware wurde übrigens von Seiten der Feuilletonredakteure, Designer und Gewerbevereine viel konsequenter betrieben als von manchen Museen. Das Metropolitan Museum lehnte die Ausstellung ab unter dem Vorwand, es handle sich – igitt – um eine Verkaufsausstellung. Und auch die Industrie erkannte den Verkaufserfolg des Faktors „Schönheit“ nicht immer. Meissen Porzellan zum Beispiel weigerte sich, für die Amerikatournee ein Exemplar seines van de Veldes Jugendstilservice herauszurücken. Osthaus mußte es käuflich erwerben. Ganz gnadenlos zum Listenpreis.
In Delmenhorst ist die Sammlung gut aufgehoben. Denn sie ruht auf schrundig gekacheltem Fabrikfußboden unter Stahldachträgern . Die Akkord-Maloche hinter dem schönen Schein wird sichtbar. Vor allem durch die Dauerausstellung. Eine Tafel befiehlt in Druckbuchstaben „Bitte größte Sauberkeit“. Darunter ist dasselbe handschriftlich in russisch hingekrakelt – für die Zwangsarbeiter in der Nazizeit.
Das Schicksal eines gewissen Jan Niewenhuis ist auf einem spröden Formblatt nachzulesen. Sein Arbeitseifer war „nicht besonders“. Er wurde ausgemustert. Wohin? In einer Christian Boltanski entlehnten Installation reihen sie ähnliche stenographische Lebenskürzel. Museumsboß Kaldewei lernt bei der Präsentation von der sogenannten Hohen Kunst, auch von Jenny Holzers digital laufenden Schriftzeilen – irgendwie ganz im Sinne des Deutschen Werkbundes. Und manchmal befiehlt er der Kassendame „Frau Sowieso, machen Sie doch bitte den Streik an“. Dann flimmern linke Parolen über den Fabrikboden. Vielleicht trifft der Besucher aber auch auf Herrn Klattenhoff. Der plagte sich 27 Jahre an den Garnspuhlen. Heiß war es und feucht. Wegen der Maschinen. Dann kam der Konkurs. Erst nach Erreichen der Rente konnte er es über sich bringen, das Nordwollegelände zu betreten. Jetzt paßt er auf seine Wollberge auf und erläutert Schulklassen das Selbstversorgersystem der Dampfmaschine. Es gibt ein Leben nach der Götterdämmerung. Barbara Kern
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