: Der Siegeszug der Taliban
Keine vier Jahre nach ihrem Entstehen haben die Ultraislamisten fast ganz Afghanistan unter Kontrolle. Die „Koranschüler“ sind eine Spätgeburt des Kalten Krieges ■ Von Thomas Ruttig
Wie aus dem Nichts tauchten im afghanischen Bürgerkrieg Ende 1994 die Taliban auf. Beobachter im Westen reagierten überrascht und rätselten, warum die Bewegung so schnell so erfolgreich war. Im Dezember 1994 erschien im Londoner Guardian erstmals ein Bericht über die Ultraislamisten: „Anscheinend sind sie entschlossen, das Land, das sich seit 15 Jahren im Krieg mit sich selbst befindet, zu befrieden. Von einfachen Afghanen sind sie herzlich empfangen worden.“ Die erste, vorsichtige Einschätzung der Bewegung als „puritanisch und regressiv“ erwies sich als zutreffend. Als „militärische“ Haupttaktik der Taliban wurde erwähnt, daß sie umgerechnet drei Million Mark an gegnerische Kommandeure verteilt und sie dadurch vom Widerstand abgebracht hätten. Dreieinhalb Jahre nach ihrem Aufauchen beherrschten die Taliban vier Fünftel des Landes einschließlich der Hauptstadt Kabul.
Ausschlaggebend für den Erfolg der Taliban war der moralische Verfall der Mudschaheddin, der Kämpfer gegen die sowjetischen Besatzer. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 und dem Fall des einst prosowjetischen Regimes 1992 hatten diese den Krieg nicht beendet, sondern in die Städte getragen und Greueltaten an der Bevölkerung verübt. Der Krieg hatte eine Lost generation hervorgebracht: jugendliche Analphabeten, die mit der Kalaschnikow am leichtesten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.
Das Programm der Taliban besteht nur aus einem Punkt: „Ruhe und Ordnung“, eine „wahrhaft islamische Ordnung“ durch die Entwaffnung aller anderen Gruppen zu errichten. Das brachte ihnen den Zuspruch vieler Afghanen ein, zunächst auch vieler Frauen. Daß deren Preis dafür in ihrer fast völligen Verdrängung aus der Öffentlichkeit bestehen würde, wurde erst später klar.
Die Taliban erklärten, sie seien keine politische Bewegung und strebten nicht nach der Macht. Tatsächlich bildeten sie zunächst keine Regierung und ernannten kein Staatsoberhaupt. Doch das hat sich geändert: Ende 97 proklamierten sie Afghanistan zum „Islamischen Emirat“. Inzwischen gibt es Minister, und die Taliban beanspruchen den afghanischen Sitz bei der UNO – bisher erfolglos.
Ihre Kämpfer rekrutierte die Bewegung anfangs aus den Madrassas, islamischen Schulen, die während des Krieges gegen die sowjetische Besatzung entstanden. Viele von ihnen wurden von pakistanischen Islamistenparteien getragen. Finanziert wurden sie von Saudi-Arabien, Großbritannien und den USA. Weil die Ausbildung in den Madrassas kostenlos war, wurden sie vor allem von Kindern von Kriegsgefallenen und aus besonders armen Familen besucht. Unter entsagungsvollen Lebensbedingungen wurde ihnen eine rudimentäre Bildung vermittelt. Hinzu kamen Leitbilder des streng puritanischen saudischen Wahhabismus, eine islamische Strömung, die in Afghanistan keine Tradition hat. Zugleich wurde für den „Heiligen Krieg“ mobilisiert, inklusive militärischer Ausbildung.
„Die dauernden Entbehrungen und eine militant islamische Erziehung, die die Werte des ungeschriebenen paschtunischen Sittenkodexes Paschtunwalay und die Scharia vermischt, hat die Taliban radikalisiert“, meint die afghanische Soziologin Mariam Abou Zahab. Die Taliban seien durch die strengen Sitten der Paschtunen geprägt, der größten Bevölkerungsgruppe des Landes. Es gebe eine „Tradition der paschtunischen Endzeit-Bewegungen“. Diese würde „in Momenten der Krise auftreten, wenn die moralischen und religiösen Werte bedroht sind, wenn die Lösung in der Rückkehr zur alten Ordnung und der Remoralisierung des öffentlichen Lebens zu stecken scheint.“ In diesem Sinne seien die Taliban „eine profund afghanische Bewegung“.
„Das Neuartige ist nicht die Existenz der Taliban-Fronten, sondern ihre unerwartete Koordination und das Vorhandensein einer politischen und militärischen Strategie, in Verbindung mit der Verfügung über finanzielle und militärische Mittel“, meint der französische Afghanistan-Spezialist Olivier Roy. Woher die Taliban ihrer Ressourcen bekamen, ist inzwischen sicher: aus Pakistan – von verschiedenen Fraktionen in Geheimdienst, Armee und Regierung, zudem von einigen islamistischen Parteien und aus Saudi-Arabien. Ein wichtiger Kanal sind die mehreren tausend islamischen „Internationalisten“, die kamen, um gegen die Sowjets zu kämpfen. Kommentar Seite 10
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