: Wie ich am besten meine Firma bestehle
■ Tiefes statistisches Dunkel umgibt Diebstahl und Betrug der Mitarbeiter an ihren Firmen. Kriminell sind nicht nur die unteren Ränge. Licht in diese Affäre hat Birte Siedenburg gebracht
Die Diplomvolkswirtin und Journalistin Birte Siedenburg hat sich einem dieser Bereiche gewidmet, die in der offiziellen Kriminalstatistik kaum auftauchen: „Der Arbeitsplatz ist zum Ort der heimlichen Selbstbedienung mutiert. Ob in Behörden oder Betreiben, auf Baustellen oder in Büros: Fast jeder nimmt sich, was er haben will.“ Das wirkliche Ausmaß des betriebsinternen Diebstahls und Betruges läßt sich aber kaum messen. Die Unternehmen wollen weder das Betriebsklima stören noch ihre Image beflecken, sie handeln die Angelegenheit bei Entdeckung möglichst diskret ab. Polizei wird normalerweise nicht eingeschaltet. Die Dunkelziffer liegt, so die Autorin, bei rund 95 Prozent. Während in der Öffentlichkeit viel über den Ladendiebstahl diskutiert wird, bleibt die Haupttätergruppe unbeachtet: Etwa 60 Prozent der Ladendiebstähle in Kaufhäusern und Supermärkten werden von den Mitarbeitern verübt.
In der Öffentlichkeit werden dagegen eher Kinder, Jugendliche und Rentner als Ladendiebe angeprangert. In Wirklichkeit ist aber nicht nur die Zahl der Diebstähle durch die Mitarbeiter größer, auch der Wert der Diebstähle ist hier wesentlich höher. Fachleute gehen davon aus, daß nicht aufgedeckte Ladendiebstähle von Mitarbeitern etwa das Zwanzigfache der aufgeklärten Fälle ausmachen. Während ein Kunde die Ware nur hastig einstecken und stehlen kann, kann ein Mitarbeiter sich die potentielle Beute zurechtzulegen und einen günstigen Moment für den Diebstahl abzupassen.
Ladendiebstahl ist nur eines der vielen Vergehen im Betrieb und zählt wohl eher zu den „peanuts“. Birte Siedenburg breitet ein vielfältiges Spektrum von Tätern, Vergehen und Motiven aus: Da sind einmal die Schreibtischtäter, die Firmenschecks auf ihr Privatkonto gutschreiben; oder sie kassieren die Gehälter von fiktiven Beschäftigten ein. Da sind zum anderen diejenigen, die Arbeitsgeräte, Heizkörper und Elektrokabel von Baustellen abtranspontieren oder Lagerbestände abräumen und ihre Ware mit Hilfe von Hehlern versilbern. Dann sind da die hochqualifizierten Computerspezialisten, die zum Beispiel in Banken über Jahre hin Millionen von abgerundeten Pfennigsbeträgen auf ein Geheimkonto überweisen und so Hunderttausende Mark nebenbei verdienen. Und da sind schließlich die Mitarbeiter, die einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Arbeitszeit – einschließlich der Telefone und Internetanschlüsse ihres Arbeitgebers – für ihren Zweitberuf nutzen. Kurz – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Birte Siedenburg widerspricht dem Vorurteil, es seien vor allem die unteren Gruppen der Arbeiter und Angestellten, die sich im Unternehmen selbst bedienen, da sie es ja am nötigsten hätten. In Wirklichkeit ist es anders: „Einem Vorstandsmitglied bieten sich vielfältigere Gelegenheiten, den Arbeitgeber zu bestehlen, Geld zu unterschlagen oder sich zu bereichern als einem Arbeiter am Fließband oder einer Buchhalterin im Büro.“ Siedenburg zitiert eine US-amerikanische Studie. Danach werden 19 Prozent aller Unterschlagungen vom Management verübt. Dieses Fünftel verursachte aber mehr als die Hälfte der Schadenssumme. Siedenburg weist auch darauf hin, daß bestimmte Betrugsformen erst in den Topetagen möglich sind. Dazu zählen zum Beispiel geheime Bestechungsgelder beziehungsweise Provisionen, wenn es um die Vergabe von Aufträgen geht. Die Anfälligkeit von Mitglieder des Managements und des Vorstands wird heute auch dadurch gefördert, daß die juristischen Konstruktionen insbesondere von Großunternehmen mit Hunderten von Tochterunternehmen, Holdings und Beteiligungen immer undurchsichtiger werden. „Je komplexer eine Unternehmensgruppe konstruiert ist, desto schwieriger ist es, die leitenden Mitarbeiter zu kontrollieren.“
Die vorherrschenden Erklärungen für die ausufernden Diebstähle, Betrügereien und Unterschlagungen in den Unternehmen lauten „allgemeiner Wertewandel in der Gesellschaft“, abnehmendes Unrechtsbewußtsein“ und „verschlechterte Arbeitsmoral“. Siedenburg weist aber darauf hin, daß auch die Loyalität der Unternehmen gegenüber den Mitarbeitern schwindet. Bei Rationalisierungen, Firmenverkäufen und Fusionen sei kein Mitarbeiter mehr vor Entlassung sicher, selbst bei jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit. „In Zeiten der Shareholder value, da Unternehmen ihre Entscheidungen allein im Interesse der Aktionäre und nicht auch zum Wohle der Mitarbeiter fällen, stoßen sie ihre Beschäftigungen zu häufig vor den Kopf.“
Die Unternehmen greifen heute normalerweise zu zwei Gegenmitteln. Das eine ist die Vertrauensschaden-Versicherung. Ein gutes Dutzend Versicherer dieser boomenden Branche bietet heute in Deutschland ihre Dienste an. Die Deckungsbeiträge gehen heute bis 50 Millionen Mark, vor 20 Jahren waren 500.000 Mark die Obergrenze. Das andere Gegenmittel ist die verschärfte Kontrolle. Siedenburg berichtet zum Beispiel vom Norddeutschen Rundfunk in Hamburg. Dem NDR kamen auf ungeklärte Weise sehr viele technische Geräte abhanden. Teure Schnittcomputer und Laptops „lösten sich in Luft auf“. Um dies zu verhindern, werden seit April 1997 an den Toren die Fahrzeuge stichprobenartig durchsucht, ob sie nun dem Redakteur, der Sekretärin oder dem Intendanten gehören. „Die Maßnahme zeitigt Erfolg“, meldet der NDR, „wir haben weniger Diebstähle.“
Dabei greifen die Unternehmen immer mehr auf externe Sicherheitsexperten zurück. Auch diese Branche boomt. Häufig werden Mitarbeiter einer Detektei verdeckt im Unternehmen angestellt. Versteckte Videokameras werden installiert, etwa in winzigen Öffnungen über dem Arbeitsplatz, an Verladerampen oder an Parkplätzen. Siedenburg stellt fest, daß solche Maßnahmen die schwindende Loyalität weiter untergraben. Eigentlich wäre das Gegenteil nötig: „Vertrauen in Arbeitgeber und Arbeitsplatz würde sicherlich weitaus mehr Loyalität fördern und damit Schutz bieten, als durch Kontrolle erzwungen werden kann.“
Gleichzeitig wird deutlich, daß etwa der politisch verengte Kriminalitätsbegriff der gegenwärtigen Bundesregierung („Kinder- und Jugendkriminalität in Deutschland nimmt weiter zu“, so Innenminister Kanther bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik 1997) das tatsächliche Kriminalitätsgeschehen nicht realitätsgerecht abbildet. Wenn das kriminelle Verhalten von Erwachsenen im Berufsleben ausgeblendet wird, werden Kinder und Jugendliche in eine Ecke gestellt, aus der sie eben immer schlechter herausfinden. Werner Rügemer
Birte Siedenburg: Jeder nimmt sich, was er kann. Diebstahl, Betrug und Unterschlagung im Unternehmen. Frankfurt 1998, Campus Verlag, 202 Seiten, DM 44.-
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