: Erziehung durch Hollywood
Kirche, Kino, Kokain: John Updikes 17. Roman, „Gott und die Wilmots“, ist eine Familiensaga des Scheiterns, die das gesamte 20. Jahrhundert und die amerikanische Gesellschaft von New York bis L.A. umspannt ■ Von Jörg Magenau
Der Sündenfall ist eine Art Schluckauf. Der presbyterianische Prediger Clarence Wilmot spürt an einem heißen Frühlingsmorgen im Jahr 1910 in Paterson, New Jersey, wie ihn die letzten Reste seines Glaubens verlassen. Es ist eine körperliche Empfindung: „ein Kapitulieren in den Eingeweiden, eine Handvoll dunkler, funkelnder Luftbläschen, die nach oben entweichen“. Der Materialismus des Jahrhunderts kündigt sich so radikal an, daß selbst das metaphysische Erleben nur noch als eine physikalische Sensation zu beschreiben ist. Gott ist tot, das ist, im Gefolge von Nietzsche und Darwin, der Ausgangspunkt in John Updikes großem amerikanischem Roman „Gott und die Wilmots“. Der Rest sind individuelle Arrangements im transzendentalen Vakuum.
Religiöse Spekulation und Sinnsuche war neben sexuellen Obsessionen immer das große Thema John Updikes, des Chronisten der weißen amerikanischen Mittelschicht der Ostküstenprovinz. In der berühmten Rabbit-Tetralogie verfolgte er die Geschicke eines solchen Durchschnittsexemplars, Harry Angstrom, über vier Jahrzehnte: vom abgehalfterten Basketballspieler zum verfetteten Autohändler.
In „Gott und die Wilmots“ spannt er den erzählerischen Bogen nun gar zu einer Familienchronik über vier Generationen und damit zu einer Geschichte des säkularen amerikanischen 20. Jahrhunderts, die in vier Kapiteln mit vier verschiedenen Hauptfiguren bis ins Jahr 1990 reicht. Doch an die Stelle des Sex als Surrogat der religiösen Erfahrung tritt nun das Kino als neue Kultstätte und zentraler Ort moralischer Erfahrung und Belehrung – bis auch das Kino im TV-Zeitalter zur Abspielstätte actionreicher Sensationen verkommt und seine Stars zu gelifteten Produkten der Bilderindustrie degenerieren.
In einem Interview beschreibt Updike, Jahrgang 1932, die Bedeutung Hollywoods für seine Generation: „Die Filme waren so lebendig und lehrreich. Wie in den Romanen des 19. Jahrhunderts konnte man erfahren, wie andere soziale Klassen lebten, vor allem die Oberschicht. So erlernte man Stil und vor allem auch moralisches Verhalten. Die Galanterie eines Gary Cooper oder Errol Flynn oder Jimmy Stewart, das war eine ethische Erziehung, wie sie auch die Kirche, allerdings in einer viel schwerer verdaulichen Form, gab. Anstelle dieser altertümlichen, komplizierten Bibelverse bot das Kino gegenwärtige Menschen, um moralische Konflikte darzustellen. Vor allem der Anstand und die Würde dieser Stars – das sank tief in mein Denken und in meine Seele.“
Updikes nie ausgesprochene, aber doch allgegenwärtige Botschaft in „Gott und die Wilmots“ ist die eines Konservativen: Es ist die Trauer um den doppelten Verlust von Glauben – mit dem auch die gesellschaftliche Ordnung und Sicherheit verlorenging – und des „guten alten“ Kinos als moralischer Anstalt. Doch weil er gleichzeitig so ein pointierter, gnadenlos genauer Realist ist, verzeiht man ihm seine grundierende Sentimentalität, den leisen „Früher war alles besser“-Sound gerne. Seine sezierende Bobachtungskunst, die manchmal gemein, aber nie lieblos ist, macht die Lektüre so genußvoll. Da sagt einer nach einem Tischgebet laut amen, „als schlage er einen Nagel in eine wacklige Konstruktion“. Oder ein junger Mann hält bei der ersten Annäherung an das kalte Bett einer, nun ja, Freundin sein Kondom „wie ein Eintrittsbilett“ in der Hand. Prägnanter kann man nicht beschreiben.
Updike untersucht voller Neugier, Offenheit und Mitleidslosigkeit, wie seine Figuren ihre Schwierigkeiten meistern oder wie sie daran zugrunde gehen. Der erste, der zugrunde geht, ist der Prediger Clarence. Eines Sonntags, nachdem ihn sein Glaube verlassen hat, versagt ihm auf der Kanzel die Stimme. Seine Frau springt für ihn ein und kaschiert seine Zweifel als Erkältung. Die Gemeinde gewöhnt sich an ihre Predigten, doch weil Clarence ein aufrichtiger Mensch ist, gibt er sein Pfarramt gegen den Widerstand seines Vorgesetzten auf. Er verdient noch ein paar Dollars, indem er an den Haustüren der Kleinstadt eine Enzyklopädie verkauft, und legt sich schließlich ins Bett, um zu verdämmern und an Tuberkulose zu sterben.
Dieses erste Kapitel basiert auf einer autobiographischen Erfahrung Updikes: Sein Großvater Harley Updike war so ein presbyterianischer Pfarrer, der das Predigen wegen anbgeblicher Stimmbeschwerden aufgab und sich durch seine Frau ersetzen ließ. Vielleicht liegt es daran, daß dieser Abschnitt so detailliert die Bewegung des Zweifels nachzeichnet.
Updike zitiert lange Passagen aus Darwin und von dem Atheisten Ingersoll, er gibt die Gespräche zwischen Clarence und seinem Vorgesetzten wieder und auch die Auseinandersetzung des Pfarrers mit Mr. Dearholt, einem Fabrikbesitzer und üblen Kapitalisten, dessen Glaube fest gegründet ist: „Kampf und Überleben, darum ist es auf der Welt schon immer gegangen. Ich genieße das, da kann ein guter Christ zeigen, aus welchem Holz er ist.“
Für Clarence aber bietet nur noch das Kino flüchtigen Trost. Es sind die frühen Werke der Stummfilmära: „Onkel Toms Hütte“ oder „Ivanhoe“, bei denen er sich fühlt, als sei er „befreit von allen Anklagen“. Und wenn der Vorführer den Film durch den Projektor kurbelt und die Bilder auf der Leinwand lebendig werden, glaubt er sich in „einer Kirche, deren Geheimnisse strahlend hell und unbestreitbar vor den erwartungsvollen Reihen“ aufragen.
Mit Clarence' Suspendierung und Tod beginnt für die Wilmots der Überlebenskampf. Sie ziehen um in ein Städtchen in Delaware, wo eine Tante wohnt und das Leben billiger ist. Teddy, einer der beiden Söhne und Hauptfigur des zweiten Kapitels, wird sein ganzes Leben hier verbringen und sich mit der Mittelmäßigkeit arrangieren. Er wird Briefträger, heiratet Emily, ein Mädchen mit Klumpfuß, das außer ihm keiner begehrt, und beschließt einfach, mit seinem Leben zufrieden zu sein. Glück ist relativ, und tatsächlich stellt sich für ihn, der, das warnende Beispiel seines Vaters vor Augen, vom Wagnis des Glaubens lieber Abstand hält, so etwas wie ein bescheidenes Glück her.
Weil Teddy nichts will, kann er auch nicht unzufrieden sein – ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Jared, der aus dem Ersten Weltkrieg mit einem lahmen Arm zurückkehrt und sein Glück mit Börsen- und Wohnungsspekulationen in New York versucht. Er wird reich, verliert beim Börsencrash sein Vermögen und endet schließlich als Besitzer eines Skilifts in Colorado.
Das dritte Kapitel handelt von Essie – der wunderschönen Tochter von Teddy und Emily. Sie hat die Kinoleidenschaft ihres Großvaters geerbt, mehr noch, sie will selbst ein Star werden. Durch die Betten diverser Provinzfotografen und dubioser Manager arbeitet sie sich über die Zwischenstation New York zielstrebig vom Modell zur Diva empor, die neben Gary Cooper und Clark Gable vor der Kamera steht.
Updike hat Essies Biographie an die von Doris Day angelegt, ihr aber auch viele autobiographische Details mitgegeben. Verwandt ist er Essie nicht nur, weil sie mit dem Künstlertum den Ausbruch aus dem kleinbürgerlichen Milieu schafft. Er läßt sie auch stottern, wenn sie aufgeregt ist – ein Phänomen, unter dem er selbst leidet und das ihn zum Schreiben brachte. Schreibend, so gestand Updike einmal, habe er sich „mit Millionen von Worten“ wie mit einem Schutzwall umgeben.
Doch den Jahren als Star folgt Essies Abstieg: Jahre ohne große Rolle, Auftritte in drittklassigen Soaps und Werbespots. Da kommt es sogar vor, daß sie sich der Religion ihres Großvaters erinnert und auf kindliche Weise betet: Lieber Gott, steh mir bei! Aber das ist nicht mehr als eine ferne Erinnerung, ein Ritual, einzunehmen wie eine Medizin.
Essies Sohn Clark, ungeliebtes Produkt einer längst verflossenen Liebschaft, verbringt sein Leben vor dem Fernseher und bekämpft seine Langeweile mit Kokain. Updike studierte Bret Easton Ellis' „Unter Null“, um sich der ihm fremden Lebenswelt der Lost Generation von Los Angeles anzunähern, die ihm dennoch fremd bleibt. Von Clark und seinem fast zwangsläufigen Weg in die Adventistensekte „Tempel des wahren und wirkenden Glaubens“ handelt das letzte Kapitel, einer Sekte, die Updike nach dem realen Vorbild der Koresh-Family von Waco, Texas, gestaltet. Am Ende des Jahrhunderts steht also wieder die Religion im Mittelpunkt, aber nun gnomhaft verzerrt, als pervertierter Abdruck einer metaphysischen Sehnsucht und Einsamkeit, als billiger Abklatsch des tiefen Glaubens und existentiellen Zweifelns des Urgroßvaters.
So rundet sich der Roman, schließt Ende und Anfang kurz, und Updike, dieser zutiefst religiöse, zutiefst skeptische Erzähler, steht wieder einmal mit leeren Händen da, ohne Erlösung zu finden. Das Feuer, in dem die verblendeten Gläubigen in einem furiosen Showdown zugrunde gehen, ist nicht das Fegefeuer, sondern bloßer Wahn. Das „Gottesprogramm“ – so ein früherer Titel – ist auch dieses Mal gescheitert. Doch so konnte noch einmal ein großer Updike-Roman entstehen, der die Verzweiflung des 20. Jahrhunderts protokolliert und Leere der amerikanischen Gesellschaft beklagt. Dieser, Updikes 17. Roman, der ganz nebenbei auch eine Geschichte des Kinos liefert, wird nach einigen schwächeren ganz bestimmt zu seinen wichtigsten Büchern gehören.
John Updike: „Gott und die Wilmots“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 736 Seiten, 45 DM
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