: Der Held – ein Gutdenker
■ Der Lebensbericht eines kommunistischen Arbeiters führt vom Rotfrontkämpferbund über die Kriegsgefangenschaft im Gulag zur Abkehr vom Stalinismus und zur Altersweisheit
Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen. Deswegen haben auch alle Lagerberichte notgedrungen ein Happy-End, meinte der verfemte sowjetische Dichter Joseph Brodsky: Der Held überlebte – sonst gäbe es keinen Bericht darüber! Der Hamburger Hafenarbeiter Tönnies Hellmann – dessen Erzählung von den beiden Politikstudenten Friedrich Dönhoff und Jasper Barenberg aufgeschrieben wurde – gab seinem Rechenschaftsbericht den Titel „Ich war bestimmt kein Held!“
Schon die Eltern des 1912 geborenen Hellmann standen links. „Seit Anfang des Jahrhunderts hatte die Arbeiterschaft ein Hobby: Taubenzüchten!“ Der Adel bevorzugte dagegen Jagdfalken. Tönnies Hellmanns Vater besaß 70 Tauben. Sein Sohn bekam 1927 eine Lehrstelle auf der Blohm&Voss-Werft. „Durch meinen Freund Rolf Hagge kam ich zur kommunistischen Jugendgruppe in Eimsbüttel.“ (Hagge wurde später in der DDR Polizeipräsident von Rostock; weil er sich dann von seiner erst spät aus sibirischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Frau trennte, kündigte Hellmann ihm die Freundschaft.)
Anfang der dreißiger Jahre wurde der Autor arbeitslos, er schloß sich einer „Jugend-Sturmabteilung“ des Rotfrontkämpferbundes an. Ende 1933 verhaftete ihn die Gestapo. Noch während der Haft heiratete er seine hochschwangere Freundin Mary. Nach seiner Entlassung war er erst einmal „vollkommen demoralisiert. Am Boden zerstört – seelisch und körperlich. Ich hätte das auch nicht länger durchgestanden.“ Sein Schwiegervater war inzwischen Mitglied einer illegalen KP- Gruppe geworden. Hellmann kam wegen eines Sportunfalls ins Krankenhaus. Mary verliebte sich in einen anderen Genossen. Er fing an zu saufen. Nachdem die Wehrmacht in die Sowjetunion eingefallen war, drängte man ihn, in einer Widerstandsgruppe mitzuarbeiten. „Da hatte ich erst mal Todesangst... Mary war mutiger als ich... Ich hatte damals einen starken Radioapparat.“ Hellmann sollte Verbindung zu einem russischen Frauenlager in Eidelstedt aufnehmen: „Hab' ich auch gemacht.“ 1943 wurde er eingezogen – „praktisch (als) Kanonenfutter“.
Auf dem Rückzug wurde er drei Tage nach der Kapitulation von tschechischen Partisanen gefangengenommen. Den Gefangenentransport, in dem er sich befand, schickte man zum Arbeitseinsatz nach Sibirien. „In meinem Herzen war noch immer die Begeisterung der Jugendideale vorhanden: Stalin, der große Meister und Vater – eine Überfigur.“ Hellmann kam in ein Baulager bei Kisel, im Nordural. In seiner Brigade versuchte er zunächst die Jungen zu überreden, mit dem Rauchen aufzuhören. Die andauernde Lebensmittelknappheit veränderte ihn: „Mensch, du wirst ja zu einem Tier!“
Weil er in der KP gewesen war, holte man ihn aus einer Zimmermannbrigade und machte ihn zum Leiter eines Antifaschistischen Agitations-Aktivs. Er durfte das Lager verlassen und Baustellen besuchen. Der Lagerkommandant in Kisel war ein deutscher Hauptmann, er „stand auf der Seite des NKWD und war ein Leuteschinder: „...gegen diesen Mann bin ich aufgestanden. Ich bin aufgestanden gegen das System, und das System hieß nun Stalinismus... Mit meiner politischen Arbeit bin ich bei den Gefangenen ansonsten natürlich gescheitert.“
Wie bei allen deutschen Lagerberichten aus Sibirien weiß Tönnies Hellmann eine Reihe von Geschichten zu erzählen, in denen seine (privilegierte) Stellung es ihm ermöglichte, Mitgefangenen das Überleben zu erleichtern. Den russischen Lager-Erinnerungen, für die kein geringerer als Dostojewski die Maßstäbe setzte, ist so etwas in der ersten Person fremd. In ihnen geht es primär um das andere Ende der sibirischen „Prüfungs“-Skala, die Hellmann mit seiner „Tier-Werdung“ nur streift. Solschenizyn, dem die infantilen Westeuropäer „weder an Weisheit noch an Standhaftigkeit etwas zu bieten“ haben, würde ihn deswegen als „Gutdenker“ bezeichnen. Dazu gehört auch, daß Hellmann, wenn er an „kritische Punkte“ kommt, ins Deduktive umschwenkt – und die allgemeine Gefechtslage erklärt. Hellmann sollte in die DDR entlasen werden: „,Nein‘, habe ich gesagt, ,ich will zurück nach Westdeutschland‘.“
Mit ihm kehrten 300 Heimkehrer nach Hamburg zurück. Nervlich fertig muß er ins Krankenhaus. Seine Frau läßt sich von ihm scheiden. Er ist „am Ende“ – und wird psychotherapeutisch behandelt. Später findet eine Anstellung als Fahrer. Bis zum KPD-Verbot 1956 sitzt er dann in der Landeskontrollkommission. Einmal verhindert er den Ausschluß eines „Verräters“, der bei der Gestapo ausgepackt hatte, mit der Begründung, die jüngeren Genossen könnten sich nicht vorstellen, „was es bedeutet, gefoltert zu werden“.
Als 1968 die Partei – als DKP – neu gegründet wird, soll auch er wieder mit dabeisein, inzwischen hatte sich die KP Frankreichs jedoch – nach Solschenizyns Büchern über die sowjetischen Arbeitslager – von der „Diktatur des Proletariats“ verabschiedet. Tönnies Hellmann lehnt diese Konzeption nun ebenfalls ab. Und überhaupt hatte er „die Schnauze voll von Parteien“. Er heiratete erneut: Cecilie, und ging in Rente. Gegen seine Herzrhythmusstörungen empfahl ein Arzt ihm lesen und schreiben. Er kaufte sich eine Schreibmaschine – bei Quelle und abonnierte Die Zeit. Darin stieß er eines Tages auf einen Text über Heinrich Böll, dem er einen langen Brief schrieb. Von Böll ermuntert schrieb Hellmann bald auch anderen Prominenten Briefe, u.a. Helmut Gollwitzer, dessen allzu kritische Darstellung des sowjetischen Kriegsgefangenenlagers 20 ihm mißfallen hatte: „Ich war entsetzt... Das war doch ein Offizierslager bei Moskau – mit erhöhter Verpflegung.“ Neben den Lagerliteraturen (von Margarete Buber- Neumann und Karlo Stajner z.B.) wurden dem Altkommunisten Hellmann vor allem die Klassiker wichtig: Goethe, Heine, Puschkin, Tolstoi... In der Zeit las er Artikel von Marion Gräfin Dönhoff. „Also allgemein war in den Arbeiterkreisen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Adel. Die haben gelacht, wenn ich das Wort ,Gräfin‘ sagte“. Nachdem er ihr einen Brief geschrieben hatte, lud sie ihn in die Redaktion ein: „Im Pressehaus habe ich vorsichtshalber schon am Empfang gefragt: ,Wie muß ich denn die Gräfin ansprechen?‘“ Die Gräfin beauftragte einen Kollegen mit der Abfassung eines Artikels über Hellmann. Als der erschienen war, entstand daraus erneut „ein gewaltiger Briefwechsel“. Wegen seines Antistalinismus war er für viele seiner ehemaligen Genossen inzwischen zum „Arbeiterverräter“ geworden.
Für Hellmann begann der Umdenkprozeß bereits in den siebziger Jahren: mit dem Sibirienlagerbericht von Jewgenia Ginsburg „Marschroute des Lebens“ und den Büchern von Lew Kopelew, der zusammen mit Solschenizyn in einem privilegierten Intellektuellen-Arbeitslager bei Moskau inhaftiert war.
In einem österreichischen Verlag erschien soeben ein umfangreicher Sammelband mit rund zwei Dutzend Berichten von Kriegsgefangenen über sowjetische Lager: „Von Workuta bis Astrachan“. Trotz der grauenhaften Zustände in diesen Arbeitslagern kann von einer systematischen Vernichtungswut der Russen nicht die Rede sein, glaubt man den Schilderungen.
Auffallend viele Autoren erinnern sich jedoch voller Zorn an die deutschen „Antifas“. Einer fragt: „Wo sind diese Leute heute eigentlich? Haben sie sich vor Scham in Erdlöcher verkrochen?“ Zu Hellmanns Entlastung sei abschließend erwähnt, daß er eigentlich statt des dünnen Rowohlt-Studentenbändchens ein 700seitiges Erinnerungswerk abliefern wollte. Helmut Höge
„Ich war bestimmt kein Held – Die Lebensgeschichte des Hamburger Hafenarbeiters Tönnies Hellmann“. Mit einer Einleitung von Marion Gräfin Dönhoff. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 12,90 DM
„Von Workuta bis Astrachan – Kriegsgefangene aus sowjetischen Lagern berichten“. Herausgegeben von Erwin Peter. Leopold Stocker Verlag, Graz 1998, 49 DM
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