Flucht vor der blutigen Tradition

Eine neue parteiübergreifende Empfehlung läßt Eva Camará hoffen: Danach sollen Asylbewerberinnen, denen die Beschneidung droht, hier ein Aufenthaltsrecht bekommen. Petitionsausschuß entscheidet über die Frau aus Guinea  ■ Von Astrid Prange

Meschede (taz) – Sie will ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wenigstens ein einziges Mal. Doch dies ist für eine Frau ein Fehler. Jedenfalls für Eva Camará aus Guinea. Denn in dem kleinen westafrikanischen Land wird das Leben einer Frau von Familie und Tradition bestimmt. Und genau davor ist die 26jährige Afrikanerin auf der Flucht. Familie und Tradition sind für sie nicht gleichbedeutend mit Geborgenheit und Anerkennung, sondern mit demütigender Mehrehe und grausamer Genitalverstümmelung.

130 Millionen Frauen, zumeist Afrikanerinnen, sind an ihren Genitalien bereits verstümmelt. Nach Schätzungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen kommen jährlich 2 Millionen Mädchen hinzu. Der deutsche Bundestag hat die sexuelle Verstümmelung unlängst als eine „schwerwiegende Menschenrechtsverletzung“ geächtet. Parlamentarierinnen aus einem überparteilichen Frauenbündnis empfahlen, daß künftig in der Praxis ein Aufenthaltsrecht für Asylbewerberinnen, denen die Genitalverstümmelung droht, gewährt werden sollte. Dies beträfe zumeist afrikanische Mädchen.

Ob Eva Camará die erste Asylbewerberin ist, die von dieser Empfehlung begünstigt wird, wird sich zeigen. Bei der Empfehlung handelt es sich nicht um verbindliches Recht, die Entscheidung ist also eine Frage des politischen Ermessens.

„Ich war nicht glücklich in Guinea“, untertreibt Eva Camará, und sie bemüht sich, die aufkommenden Tränen zu ersticken. Überall um sie herum wurde getuschelt. Sie formt ihre Finger zu einer Schere und reibt sie hin und her. „Diese Frau ist nicht sauber, hörst du, sie ist unrein, sie ist nicht beschnitten.“ Das verachtende Wispern und Flüstern klingt ihr bis heute in den Ohren. Sie weiß: Sie kann niemals mehr in ihre Heimat zurück, es sei denn, sie läßt eine pharaonische Beschneidung über sich ergehen. Bei dieser Zeremonie werden die äußerlichen Geschlechtsteile weggeschnitten und wird die Vagina bis auf eine kleine Öffnung für Urin und Menstruation zugenäht. Kurz vor der Hochzeit wird die Naht mit einem Messer aufgeschlitzt.

Eva Camará hat Angst. Sie wehrt sich, im Alter von 26 Jahren noch unter das Messer einer der alten Frauen zu kommen, die auf den Dörfern die Beschneidungen vornehmen. Sie hat Angst, genauso zu verbluten wie ihre ältere Schwester Mariam, die im Alter von zehn Jahren an der Folgen des peinigenden Rituals starb. Damals schwor ihre Mutter, daß niemand in der Familie mehr beschnitten werden sollte; ihre jüngere Tochter Eva schützte sie mit der Notlüge, sie sei schon operiert worden. Doch zehn Jahre später, 1987, verunglückten beide Eltern bei einem Verkehrsunfall. Eva Camará, damals 15 Jahre alt, kam in die Obhut eines väterlichen Freundes.

„Beim Spielen mit einer Freundin habe ich mich verplappert“, gibt sie zu und schlägt die Augen nieder. Zunächst hielt sich der Freund ihres verstorbenen Vaters zurück. Doch als er sie, als sie 25 Jahre alt war, mit einem 70jährigen verheiraten wollte, der bereits drei Frauen hatte, verlangte er die Entfernung der äußeren Geschlechtsorgane. Eva floh. „Auch wenn ich einen anderen Mann finden würde, der aus Liebe zu mir auf die Operation verzichten würde, seine Familie würde auf der Operation bestehen“, weiß sie. Und alleine als Frau in Guinea zu leben, dies sei selbst in der Hauptstadt Conakry unmöglich.

Doch ist dies in Deutschland für eine Angehörige der ethnischen Gruppe der Malinke möglich, die niemals im Leben eine Schule besucht hat? Auf den ersten Blick scheint dies aussichtslos. Schon einen Monat nachdem sie mit einer Maschine aus Moskau auf dem Berliner Flughafen landete, wurde der Asylantrag von Eva Camará am 16. Juni 1997 als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt.

Noch teilt sie sich mit einer Flüchtlingsfrau aus Ruanda ein Zimmer im Asylbewerberheim in Freienohl, einem Vorort der idyllischen Stadt Meschede im Sauerland. Doch bei der Ausländerbehörde des Hochsauerlandkreises ist sie nicht gern gesehen. Mit den Worten „Frau Camará, Sie müssen zurück in ihr Land, das Asyl ist vorbei!“ wird sie jede Woche unverblümt zur Ausreise aufgefordert.

Wenn sie wieder einmal nicht mehr weiß, wohin sie noch fliehen soll, flüchtet sich Eva Camará in ihre Tränen. Manchmal rollen sie in den Schoß Ingrid Schünemanns vom Diakonischen Werk, die sich der Flüchtlinge in Meschede und Umgebung annimmt. Die Protestantin kämpft dafür, daß auch Asylbewerber von den Mitarbeitern der Ausländerbehörde als „Geschöpfe Gottes“ erkannt werden. Für Eva Camará hat sie sich an den Petitionsausschuß des Landtags von Nordrhein-Westfalen gewandt. „Wenn die Petition nichts bewirkt, kann sie immer noch Asyl in den USA oder Kanada beantragen“, meint sie. In diesen Ländern werde drohende Genitalverstümmelung als Asylgrund anerkannt.

Eva Camará macht es ihrer Helferin allerdings nicht leicht. Aus Angst vor einer Abschiebung „findet“ sie ihren Paß nicht und will auch keine Ehrenerklärung unterschreiben, um einen Paßersatz von der guineischen Botschaft in Bonn zu erlangen. Deshalb wurde sie bereits zu einer Geldstrafe von 450 Mark verurteilt.

Ob es Eva Camará einmal ähnlich ergehen wird wie dem Fotomodell Waris Dirie aus Somalia? Auch sie floh vor der Ehe mit einem alten Mann, an den ihr Vater sie für fünf Kamele verkauft hatte. Neun Tage lief das Nomadenmädchen durch Wüste und Berge. Als sie die Hauptstadt Mogadischu erreichte, wo eine Tante wohnte, überstürzte sich das Schicksal: Ein Onkel fuhr nach London und nahm sie mit.

Die 15jährige Waris Dirie schuftete als Putzfrau bei McDonald's, bis sie 1987 von dem Fotografen Michael Goss entdeckt wurde. Mittlerweile hat Waris Dirie es geschafft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die 28jährige lebt als eines der gefragtesten Top- Models mit Mann und Kind in New York und zieht als Botschafterin des guten Willens für die Vereinten Nationen durch die ganze Welt, um die massenhafte Beschneidung von Frauen zu bekämpfen.