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Vorhang für die Moderne

Bis zur Eröffnung am 2. Oktober wird der debis-Komplex am Potsdamer Platz mit Geschichtspostern zugehängt. Eine anspruchsvolle Aufgabe für Fassadenkletterer  ■ Von Andreas Leipelt

In 20 Meter Höhe näht ein Fassadenkletterer einem Volkspolizisten sein linkes Ohr an. Das überdimensionale Bild zeigt den Vopo am 13. August 1961 bei der Errichtung einer Stacheldrahtsperre am Potsdamer Platz. 37 Jahre später hängt der Kletterer von einem debis-Neubau vor dem 22 Meter hohen und 46 Meter breiten Foto. Langsam seilt er sich nach unten ab und verbindet die einzelnen Bahnen des Riesenposters.

Es ist das erste der 22 „Hanging Pictures“, mit denen Daimler- Benz im September alle seine Gebäude am Potsdamer Platz verhüllen wird. Doch mit dem Verpackungskünstler Christo hat die Aktion nichts zu tun. „Wir verstehen das nicht als Kunstaktion“, versichert Ute Wüst von Vellberg, Pressesprecherin des Daimler-Benz- Projektes Potsdamer Platz. „Mit unserer Fotogalerie wollen wir die Betrachter auf eine Zeitreise in die Vergangenheit schicken.“

Die schwarzweißen Großfotos werden in verschiedenen Formaten die Geschichte des Potsdamer Platzes erzählen: vom belebtesten Platz Europas in den 20er Jahren über die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges bis hin zur Maueröffnung.

Sieben Klettermaxe sind im Einsatz. „So ein Riesenlappen wiegt 'ne halbe Tonne“, weiß Christopher Mertens, „und die kann man nicht so einfach hochziehen.“ Der Chef von Magic Rope koordiniert den Einsatz der verschiedenen Industriekletterer: „Bis wir alles so justiert haben, daß das Ding faltenfrei hängt, da vergehen schon acht, neun Stunden.“

Das Ausmaß der Aktion ist enorm: Zentimetergenau wurden auf dem Dach des Gebäudes Stahlträger befestigt und von deren Enden Stahlseile zu riesigen Betonwürfeln auf dem Bürgersteig gespannt. Das Riesenfoto ist nun in seiner ganzen Pracht zu sehen. Zufrieden betrachtet Gerd Henrich das erste seiner Werke. Der Geschäftsführer der DSR Mega Poster GmbH ist eigens aus Neuss angereist und von dem geschichtlichen Hintergrund seines Auftrags sichtlich begeistert: „Dabei ist es am schwierigsten, die Montage der Plakate vernünftig in die Logistik der Baustelle einzufügen. Zudem muß jedes einzelne erst von Statikern auf seine Windsicherheit überprüft werden.“

Bei genauerem Hinsehen sind hinter dem historischen Foto schemenhaft Angestellte der Berliner Volksbank zu sehen, die Daimler- Benz das Gebäude abgekauft hat. „Die können ganz normal aus dem Fenster gucken“, versichert Christopher Kleinhempel, Inhaber der Kleinhempel INC-JET-GmbH und Hersteller der überdimensionalen Fotografien. „Die Megaposter bestehen aus einem Netzgittergewebe, das sowohl Licht als auch Luft durchläßt.“ Sie werden nicht etwa gedruckt, sondern in einem Air-brush-Verfahren aufgesprüht. „Mit vier Farben, denn so erhalten die alten Fotos die charakteristische Tönung.“ Die historischen Originalabzüge werden eingescannt, auf die entsprechende Größe hochgerechnet und mit einer Datenmenge von 20 Megabyte pro Quadratmeter auf das Trägermaterial übertragen.

Kleinhempel brachte vor sechs Jahren einen Air-brusher nach Europa, der fünf Meter breite Vinylplanen besprühen konnte. Seither strahlen riesige Werbebotschaften von den Baugerüsten und verdienen kletterbegeisterte Freaks wie Olaf Burger ihr Geld damit, diese Werbeträger anzubringen. „Man braucht dazu den Mut der Verzweiflung, eine gute Ausrüstung und jede Menge Spaß an der Sache.“ Burger hat das Bergsteigen „bei der Armee“ gelernt und so seine Begeisterung für das Sportklettern entdeckt. Seither kraxelt er für die Berliner Firma „River and Montain“. Bei der offiziellen Einweihung des debis-Komplexes am 2. Oktober wird Burger mit ungefähr 170 Kollegen seinen bis dato größten Einsatz haben. Die 12.000 qm großen Geschichts-Hüllen werden dann wieder fallen und den Blick auf die in Beton gegossene Realität freigeben.

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