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■ In Lateinamerika boomt die Kriminalität. Schuld daran sind nicht nur Neoliberalismus und wachsende Armut: Es gibt viele GründeDer neue Wilde Westen

Die Zeit der Bürgerkriege in Lateinamerika geht zu Ende. Abgesehen von Kolumbien, Mexiko und Peru haben die Guerillas ihre Waffen abgegeben, Frieden mit den Regierungen geschlossen und sitzen als mehr oder weniger starke Parteien auf den Oppositionsbänken der jeweiligen Parlamente.

Das Sterben aber geht weiter. In keiner anderen Region der Welt ist die Kriminalitätsrate in den vergangenen zehn Jahren so sprunghaft angestiegen wie in Lateinamerika. In Kolumbien und Peru etwa stieg die Mordquote um das Viereinhalbfache, in Brasilien oder Uruguay um das Doppelte. Das Phänomen betrifft den gesamten Halbkontinent. Trauriger Spitzenreiter ist El Salvador. Dort sterben jedes Jahr pro 100.000 Einwohner 135 Menschen eines gewaltsamen Todes, das sind rund 25 Prozent mehr als zu Zeiten des Bürgerkriegs. Zum Vergleich: In Deutschland sterben jedes Jahr pro 100.000 Einwohner 1,4 Menschen durch Mord.

Die Linke schiebt die Schuld an diesem Phänomen gerne den durchweg neoliberalen Regierungen in die Schuhe. Je ungezügelter der Markt, je härter die Konkurrenz, um so reicher werden die Reichen und um so ärmer die Armen. Und denen bleibt nichts anderes, als sich mit harten Bandagen durchs Leben zu schlagen. So einfach freilich ist der Sachverhalt nicht. Die Kriminalitätsrate steigt viel schneller als die Armutsquote.

Man kann nicht nur Mordquoten und Wirtschaftssysteme miteinander vergleichen. Der noch unabgeschlossene Wandel vom Staatsprotektionismus zur offenen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ist nur ein Aspekt des Problems. Der Umbruch des Sozialgefüges auf dem Land und, so makaber es klingen mag, das Ende der Militärdiktaturen sind für die Kriminalitätsstatistik von entscheidenderer Bedeutung.

Das Sozialgefüge auf dem Land war für Jahrhunderte von der von den Kolonisatoren errichteten Wirtschaftsform bestimmt. Die Haciendas waren nicht nur eine Produktionseinheit, sie prägten auch die Kultur Lateinamerikas. Der Patron war Gesetzgeber, Regierung und Richter in einer Person, die Peones waren so gut wie leibeigen. Seit die Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Produkte sinken und die Grenzen offener geworden sind, ist diese Struktur zerbrochen.

Will Lateinamerikas Landwirtschaft heute noch konkurrenzfähig sein, muß sie sich industrialisieren. Das aber setzt eine andere Produktionsweise als die der Hacienda- Wirtschaft voraus. Auf den noch rentablen großen Gütern wurden massenhaft Arbeitskräfte überflüssig. Sie wanderten als Lumpenproletariat in die Städte oder fristen auf Kleinstparzellen in Subsistenzwirtschaft ein karges Leben. Das Orientierungssystem, das über Jahrhunderte galt, hat plötzlich keine Bedeutung mehr. Einen ähnlichen Niedergang erlebten übrigens die Großgrundbesitzer. Nicht mehr sie haben heute das Sagen im Staat. Die neuen Oligarchen kommen aus Finanz- und Handelskapital.

Und noch ein zweites soziales und politisches Orientierungssystem ist verschwunden: die Armee auf der einen und die Guerilla auf der anderen Seite. Die Militärdiktaturen führten – oft genug im direkten Auftrag der Oligarchen – im Staat dasselbe Willkürregiment wie die Großgrundbesitzer auf ihren Haciendas. Und auch in den von den Guerillas kontrollierten Zonen ging es kriegsbedingt alles andere als demokratisch zu. So autoritär die Gesellschaftskontrolle beider Seiten war, sie bot doch gleichzeitig einen verläßlichen Orientierungsrahmen. Auch dieser Rahmen ging in die Brüche.

Ersatz dafür ist nicht in Sicht. Nicht für die soziale Organisation der Hacienda und auch nicht für die politische Orientierung zwischen Armee und Guerilla. Ein paar Ausnahmen mag es geben. Kolumbien zum Beispiel, wo zum einen noch immer starke Guerillaverbände und rechte Milizen operieren und wo zum anderen die Drogenkartelle mit einer Mischung aus wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen und Wohltaten für die Armen ihr eigenes Sozialgefüge geschaffen haben. Freilich eines ausschließlich krimineller Natur. Im ganzen aber bleibt ein Leerraum, den der Staat nie in Anspruch genommen hat und jetzt auch nicht für sich in Anspruch zu nehmen gedenkt.

Im Gegenteil: Ein noch schlankerer Staat ist angesagt. Die wenigen staatlichen sozialen Leistungen werden privatisiert. Das Gesundheits- und das Bildungswesen waren, wenn man gewisse Mindeststandards voraussetzt, schon immer in privater Hand und damit außerhalb der Möglichkeiten der Mehrheit der Bevölkerung. Jetzt werden zudem Wasserversorgung, Strom und Rentenversicherungen vom Staat an Unternehmen verkauft. Die Tarife steigen dabei bis um mehrere hundert Prozent.

Angesichts solch legaler Wegelagerei darf man sich über illegale Wegelagerer nicht wundern. Zumal die neoliberalen Regierungen noch nicht einmal gewillt sind, ein einigermaßen geordnetes Zusammenleben auch nur zu regulieren. Auch an Polizei und Justiz wird gespart. Sie sind chronisch unterbesetzt, unterbezahlt, schlecht ausgebildet, korrupt und dazu ineffizient. Verbrechen wird vor diesem Hintergrund wirklich lohnend und ist oft risikoloser als ehrliche Arbeit.

In El Salvador etwa werden Überfallopfer, wenn sie Widerstand leisten, schon wegen ein paar Mark erschossen. Auf hundert Morde kommen dort gerade sieben Festnahmen. Über Verurteilungen wird noch nicht einmal eine Statistik geführt. Achtzig Prozent der Häftlinge dieses Landes haben noch nie einen Richter gesehen. Entweder sie verschimmeln in überfüllten Knästen, oder sie kommen gegen Schmiergeldzahlung schnell wieder frei.

Angesichts dieses staatlichen Freiraums greift die Bevölkerung zur Selbsthilfe. In Guatemala werden Jahr für Jahr rund vierzig Menschen gelyncht. Oft genug werden dabei „aus Versehen“ Unschuldige umgebracht. Trotzdem sind 75 Prozent der Guatemalteken dafür, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Fälle von Lynchjustiz häufen sich auch in den anderen zentralamerikanischen Ländern und im Süden von Mexiko.

Positiv betrachtet ist ein Rest von Rechtsbewußtsein durchaus noch vorhanden. Doch niemand schafft einen festen Rahmen, der dieses rechtsstaatlich kanalisieren könnte. Und so hat Lateinamerika heute, nach dem Zusammenbruch der früheren Orientierungssysteme, all diejenigen Symptome, die vor 150 Jahren für den Norden des Kontinents standen: Es ist der neue Wilde Westen Amerikas. Toni Keppeler

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