: Devisen „njet“ in Kaliningrad
Rußlands Krise zieht auch Moskaus Ostsee-Provinz Kaliningrad an den Rand des Abgrunds. In einer Woche sind die Preise um fast 100 Prozent gestiegen. Chaos facht die Debatte um eine Autonomie des Gebietes wieder an ■ Aus Kaliningrad Thoralf Plath
Zum 100. Mal wohl: „Nicht teuer. Nur 50 Kopeken das Stück.“ Rima Petrowna hebt den Strauß blaßgelber Chrysanthemen in die Höhe und einem jungen Mann fast unter die Nase. „Für ihre Mutter vielleicht?“ Als der Junge weitergeht, läßt Rima ihre Herbstblüten wieder sinken, steckt den Strauß fast verlegen wieder in das alte Gurkenglas. Sie ist kein Profi. Keine von diesen abgebrühten „Tschelnoki“, den „Webschiffchen“, wie die Straßenhändler in Rußland heißen und auch hier in Kaliningrad, der Hauptstadt von Moskaus Ostsee- Exklave, zum Straßenbild gehören. Rima Petrowna ist 64 und Rentnerin. Sie versucht hier ein paar Gartenblumen zu verkaufen. „Das Leben zwingt.“ Das Leben, sagt sie, und meint die Not.
350 Rubel zahlt der Staat der pensionierten Musiklehrerin pro Monat – was vor zwei Wochen umgerechnet noch rund 100 Mark entsprach. Dann begann Rußlands Währung abzustürzen, und jetzt ist Rima Petrownas Rente nur noch die Hälfte wert. „Davon kann ich nicht mehr leben.“ Die zierliche Frau zählt Preise für Nahrungsmittel auf, die binnen Wochenfrist explodierten. „Noch habe ich Glück, daß ich den Garten habe und etwas verkaufen kann. Was soll das nur im Winter werden? Die Russen bekommen wieder große Not.“
Rima ist nicht allein hier am Leninskij Prospekt. Am Eingang zum Universitätsboulevard, wo die rammelvollen Trolleybusse halten und im Wechsel mit ausgeleierten Tatra-Straßenbahnen alle zwei Minuten Menschentrauben ausspucken, sitzen Dutzende Babuschkas und bieten feil, was Garten und Wald im Hochsommer wachsen lassen: Gurken, Beeren, Butterpilze. Auf diesem Markt ist alles billig. Seit der Rubel fällt, stehen die alten Frauen hier oft fast umsonst: Die paar Kopeken, die sie am Tag einnehmen, frißt der Rubelverfall gleich wieder auf.
Rußlands schwere Wirtschaftskrise trifft die von Polen und Litauen eingeschlossene Exklave Kaliningrad, ein Gebiet etwa so groß wie das Land Brandenburg mit knapp 930.000 Einwohnern, mit voller Wucht. Noch längst nicht hat sich der ehemalige Norden Ostpreußens davon erholt, fast fünf Jahrzehnte als waffenstarrendes Militärarsenal abgeriegelt worden zu sein. Zivile Pläne spielten auf dem „größten Flugzeugträger der Sowjetunion“ keine Rolle. Als 1991 die Grenzen fielen, schnitt Moskau die Kaliningradskaja Oblast über Nacht von Subventionen ab. Kaliningrad setzte zum Sturzflug an: In den letzten sechs Jahren sank die Industrieproduktion um 70 Prozent, heute werden mehr als drei Viertel aller Konsumgüter eingeführt. Voriges Jahr betrugen die Importe aus Deutschland umgerechnet 535 Millionen Dollar, die Ausfuhren nur 45 Millionen. Jetzt bekommen auch die Kaliningrader das große Zittern: Während der Wert des Rubels hier in zwei Wochen um nahezu die Hälfte sank, kletterten die Preise für viele Importwaren in zehn Tagen um fast 100 Prozent.
Auf dem Leninskij Prospekt machen mit lila Vollmilch-Nuß, Samsung-Glotzen und Sicherheitsdetekteien vollgestopfte Konsumtempel wie das glitzernde Edelkaufhaus „Wester“ Geschäfte. Doch einkaufen kann hier nach dem Rubelcrash kaum noch einer. Der Puls der Stadt schlägt, wo der Leninprospekt auf den Siegesplatz trifft. 100 Meter hinter dem Lenin- Standbild des Sowjetgründers beginnt der Rynok, der Zentralmarkt der Stadt.
In diesem Gewusel aus Hunderten von Ständen gibt es alles: vom Angelhaken bis „Whiskas“-Katzenhappi. Tische biegen sich unter Bergen von usbekischen Melonen, Pfirsichpyramiden und Räuscherfisch. Der Rynok ist rappelvoll, wie jeden Tag. Doch auf den Preisschildern der Händler offenbart sich still die Krise: Das Kilo Tomaten beim armenischen Gemüsehändler kostet mehr als fünf Rubel – fast doppelt soviel wie noch vor einer Woche. An einem Stand flippt eine junge Frau aus. „Was, ihr Banditen, sieben Rubel wollt ihr jetzt für ein Kilo Reis?!“ schreit sie den Verkäufer an. Der donnert zurück. „Glaubst du, ich bekomme den Reis geschenkt? Beschwert euch in Moskau!“
Doch zu den Verlierern der Krise gehören nicht nur die Rentner – im Kaliningrader Gebiet mit seinen über 50 Nationen zeigen sich die Verwerfungen beim Umbau des Staatssozialismus noch krasser als im übrigen Rußland. Die Arbeitslosigkeit in der Exklave liegt offiziell bei 23 Prozent, auf dem Land ist sie mehr als doppelt so hoch. Nahezu die Hälfte aller Einwohner lebt nahe der Armutsgrenze. Aus Rußlands westlichster Region ist ein Notstandsgebiet geworden.
Die Administration von Gouverneur Leonid Gorbenko reagiert auf die ersten Marktsignale der Krise auf ihre Weise. Eine Frau von der Gebietsverwaltung geht mit einer Liste in der Fleischhalle des Rynoks herum und kontrolliert, ob die Händler sich an die Preisbindungen halten, wie es Präsident Jelzin angeordnet hat. Als sie an einem Stand Rouladen als zu teuer bemäkelt, fliegen fast die Fetzen. „Scher dich zum Teufel!“ keift die Verkäuferin, „euch haben wir dieses Chaos doch zu verdanken!“ Die Kontrolleurin schreibt etwas in ihre Liste und geht. „Wenn das so weitergeht, wird bald einer umgebracht“, sagt sie.
Doch solche Aggressivität ist die Ausnahme. Demonstrationen etwa gegen das Politik-Chaos der Moskauer Regierung hat es in den letzten zwei Wochen noch keine gegeben auf dem Siegesplatz. Vor einer der vielen Wechselstuben, die sich in der Straße vor dem Zentralmarkt angesiedelt haben, stehen die Leute an. Über der Tür verkünden leuchtendrote Zahlen auf einer elektronischen Anzeigetafel die Devisenkurse. Fast zehn Rubel kostet der Dollar bereits, doppelt soviel wie vor zwei Wochen. In einer viertel Stunde soll die Wechseltube wieder öffnen, „dann gibt's vielleicht Dollar, hofft Juri, ein junger Milizionär. Er will ein paar Hunderter einwechseln, schon seit Tagen versucht er sein Erspartes vom Konto zu retten.
Doch die Banken zahlen keine Devisen mehr aus. „Valuty njet.“ Als in der Wechselstube die Jalousien hochrattern, ist der Rubel schon wieder kräftig gerutscht, der DM-Einkaufspreis auf der Tafel klettert schlagartig von 4,34 auf 4,76. Jurij fragt nach Dollar, doch die Blondine hinter dem Panzerglasfenster zeigt nur auf das Schild: „Valuty njet.“
Kleine „Njet“-Zettel hängen auch in etlichen anderen Läden. Weil sie mit der Moskauer Währungstalfahrt nicht mehr mitkommen, haben viele Händler ihre Geschäfte geschlossen. Auch der kleine Rundfunkladen an der Ecke Proletarskaja ist zu. In den letzten Tagen drängelten sich hier immer zur Nachrichtenzeit des russischen Fernsehprogramms ORT die Kunden, um auf der Monitorwand aus koreanischen und japanischen TV- Geräten die aktuellen Botschaften ihres Häuptlings zu vernehmen. Als der silberne Haarschopf von Zar Boris mit ganz viel Wiktor Tschernomyrdin auf der Bildfläche erschien, lief ein Raunen durch den Laden. „He, Wiktor Michaelowitsch“, rief einer, „willkommen in Hongkong!“
Tschernomyrdin hat, wenn er in der Vergangenheit von Kaliningrad sprach, gern und oft den visionären Begriff vom „Hongkong an der Ostsee“ gepflegt. Zuletzt, als er im Mai 1996 den Zeremonienmeister spielte für die Inbetriebnahme eines Montagewerkes des koreanischen Autobauers KIA. Mehr als 2.000 Pkws sollten dort monatlich zusammengeschraubt werden von umgeschulten russischen Werftarbeitern. Bald kreiste über dem Joint-venture der Pleitegeier.
Die Vision von der Freihandelszone Jantar („Bernstein“), ebenjenem baltischen Hongkong, ist längst verflogen. Auch der vor zwei Jahren beschlossene Status einer Sonderwirtschaftszone mit weitreichenden Zollfreiheiten bremste die ökonomische Depression nicht: 1997 sank das Volumen der Auslandsinvestitionen gegenüber dem Vorjahr um 50 Prozent.
Selbst Stefan Stein, Kaliningrader Außenstellenleiter der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Kaliningrad, rät Neueinsteigern, den Verlauf der russischen Wirtschaftskrise abzuwarten. „Man muß jetzt erst einmal sehen, in welche generelle Richtung sich alles entwickelt.“ Stein mahnt zugleich, Ruhe zu bewahren. „Die Preiserhöhungen sind auch eine Folge hysterischer Reaktionen. Das wird sich hoffentlich wieder fangen.“ So spricht das Kapital.
Dabei knirscht und kracht es längst unüberhörbar im Getriebe der Sonderwirtzone. Den Banken geht mit den Devisen die Luft aus; vier große Geldinstitute in Kaliningrad stehen vor der Pleite, meldet Radio Baltic Plus an diesem Morgen. Vor Reaktionen, die so ein Crash nach sich ziehen kann, fürchten sich sogar gestandene Geschäftsleute wie Stein: „Alles hängt jetzt davon ab, ob die Banken durchhalten. Weil diese Krise zuallererst eine Bankenkrise ist.“
Doch russische Geduld ist nicht grenzenlos. Das haben die Kaliningrader Anfang Juli bewiesen, als sie gegen Moskaus Pläne, per Gesetz die Zollfreiheiten in der Sonderwirtschaftszone wieder einzukassieren, demonstrierten. Fast 5.000 Menschen gingen auf die Straße, nachdem sie gehört hatten, was dies für sie bedeutete: drastische Senkung der Ein- und Ausfuhren, Anstieg der Einzelhandelspreise um 70 Prozent. „Überlegt sich Moskau das nicht anders“, drohte Larissa Baginskaja, Gewerkschaftsvorsitzende der Nähfabrik Jantar, „werden wir alle unterstützen, die auf die Trennung unserer Exklave von Rußland hinarbeitem.“ Solche Signale verfehlten ihre Wirkung in Moskau nicht – die Sonderwirtschaftszone blieb unangetastet. Einen Monat später brach der Rubel ein. Die Zeitbombe am Pregel tickt immer lauter.
Denn die neue schwere russische Wirtschaftskrise hat die Diskussion um einen autonomen Status der Exklave stärker als je zuvor entfacht. Diese Krise offenbart auch ein Debakel der Zukunft: Kaliningrad als permanent konfliktgefährdeter „Ostsee-Slum“ im künftigen EU- und Natoreich. Die Zeitfür die Idee einer vierten „Baltischen Republik“ sieht jetzt vor allem einer reifen: Sergej Pasko, Chef des Kaliningrader Unternehmerverbandes. Der 47jährige ist Vorsitzender der Baltisch-Republikanischen Partei. Die Sonderwirtschaftszone wäre eine Lösung für die nichtreformierte Wirtschaft der UdSSR gewesen, glaubt er und rät von Investitionen in das Kaliningrader Gebiet ab. „Bei dieser Instabilität ist es unvernünftig, auf Investitionen zu hoffen. Sie behindern den Prozeß des Staatsaufbaus und demoralisieren diejenigen, die das Geld erhalten.“
Den meisten Kaliningradern ist mit diesen Strategiespielen kaum beizukommen. Sie haben andere Sorgen. Rima nestelt an ihren Blumen herum. Einen halben Tag steht sie am Leninprospekt und hat erst drei Sträuße verkauft. Der Dollarkurs durchbricht unterdessen die magische 10-Rubel-Marke. „Valuty njet“ in Königsberg. Und schlechte Zeiten für Blumen.
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