■ Mit der Bahnindustrie auf du und du: Entgleisung möglich
Berlin (taz) – Wolfram Martinsen ist das bisher letzte und prominenteste Opfer der Probleme, die der deutschen Bahnindustrie momentan zusetzen. Der Bereichsvorstand der Siemens Verkehrstechnik verläßt Ende des Monats „in beiderseitigem Einvernehmen“ den Konzern. Der Grund: Martinsen hatte es nicht geschafft, den Vorjahresverlust seines Geschäftsbereichs von 177 Millionen Mark wie versprochen in diesem Jahr auf 70 Millionen zurückzufahren.
Vor Martinsen hatten bereits Hunderte von Bahnbauern ihren Job verloren. Erst im Juli kündigte Adtranz an, sein nagelneues Werk in Berlin zu schließen und bundesweit 1.400 Menschen zu entlassen.
Denn die Bahnindustrie in Europas größtem Verkehrsmarkt hat zwar volle Auftragsbücher für den Bau von Zügen für den Nah- und Fernverkehr, leidet aber unter einem massiven Preisverfall von bis zu fünfzig Prozent, wie Ivo Wolz vom Verband der Deutschen Bahnindustrie bestätigt. Die Konzerne Siemens, Adtranz und Deutsche Waggonbau AG haben in der Euphorie von massiven Bestellungen an Waggons und Zügen im Rahmen der Bahnreform 1993/94 Arbeiten angenommen, die sie nun weit unter Kostendeckung abarbeiten müssen.
Außerdem hat sich die Bahn AG, immer noch größter Abnehmer der Produkte, von einer Behörde zu einem hart kalkulierenden Unternehmen gewandelt. „Früher konnte man Prototypen entwickeln, und die Bahn hat sie getestet. Heute müssen dafür die Firmen selbst aufkommen“, so Wolf.
Die Probleme mit den Überkapazitäten wollten die deutschen Bahnbauer durch verstärkten Export auffangen. Doch auf dem europäischen Markt gibt es immer noch verschiedene nationale Standards, und die Asienkrise machte umfangreichen Exporten in diesen Teil der Welt einen Strich durch die Rechnung.
Noch zehrt die Branche mit einem Jahresumsatz von 17 Milliarden Mark und 32.000 direkt und indirekt Beschäftigten vom großen Investitionsprogramm der Bahn, das mit einem Volumen von 22 Milliarden bis zum Jahr 2002 läuft. Danach hoffen die Unternehmen auf Aufträge zur Modernisierung und Neuentwicklung, aber auch zur Instandhaltung der Züge. „Die Konkurrenz wird sicherlich nicht schwächer“, meint Wolf zurückhaltend.
Die Hoffnung der Bahnbauer: Wenn mehr Menschen Bahn fahren und mehr Service verlangen, werden auch wieder neue Waggons benötigt. bpo
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