■ Lesestoff: Russische Reisen
Rußland hat seit jeher eine Faszination auf mitteleuropäische Dichter und Denker ausgeübt — insbesondere seit der Renaissance und ihrem Drang nach neuen Ufern, geistig und ökonomisch. Den ersten großangelegten Bericht hat der Barockgelehrte Adam Olearius verfaßt, der in den Jahren 1633 bis 1635 an zwei Handelsmissionen nach Rußland teilnahm. Der Orienthandel sollte die drückende Verschuldung des Herzogs von Holstein während des Dreißigjährigen Krieges überwinden helfen. Die „Moskowitische und Persische Reise“ ist ein typisch frühneuzeitliches Amalgam: abenteuerliche Erzählung über Kämpfe mit Tataren einerseits, kritische Sichtung geographischer und kulturgeschichtlicher Fakten andererseits.
Die einzige Reise seines Lebens unternahm der Priester und Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson im Jahre 1867 nach Rußland. Der Autor von „Alice im Wunderland“ – weitaus bekannter unter dem Namen Lewis Carroll – trägt in seinem Tagebuch den Zwiespältigkeiten seiner Persönlichkeit Rechnung. Pedantische Notizen über Abfahrtszeiten sämtlicher Züge, massenhaft Besuche von Kathedralen, Verwandlung von sprachlosen Gesprächen mit russischen Kutschern in Nonsens-Dialoge und natürlich die voyeuristischen Beobachtungen kleiner Mädchen von Brüssel bis Moskau.
Das neue Rußland der 20er Jahre dieses Jahrhunderts war ein Magnet für Schriftsteller und Journalisten. Joseph Roth, in späteren Jahren bekannt durch seine intensiven Romane über die untergangsgeweihte und untergegangene österreichische K.u.k.-Monarchie, war zu Beginn seiner Karriere Journalist der Frankfurter Zeitung. Für sie ging er im August 1926 nach Rußland.
Zur selben Zeit wie Roth war auch ein deutscher Wissenschaftler in Rußland unterwegs. Der Neuropsychiater Karl Wilmanns suchte zur Überprüfung einer Hypothese zur Syphilis eine geeignete Population (!).
Durch den Zerfall der Sowjetunion wurde das Interesse an den Überbleibseln dieses Mammuts entfacht. Der österreichische Künstler Drago Torpedowicz ist ein halbes Jahr durch sieben Länder der ehemaligen UdSSR gereist, um ein „Mail Art“-Projekt durchzuführen. In acht Städten suchte er Druckereien, Fotolabors und Postämter auf, um selbst Postkarten herzustellen und an 500 Adressaten in Westeuropa zu verschicken. Beim Schlangestehen fand er viel Zeit, Eintragungen in sein Notizbuch zu machen. Martin Hager
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