: Birth of a nation?
■ Ein neues Staatsangehörigkeitsrecht gibt es nur mit Rot-Grün. Und das wäre ein Revolutionierung des deutschen Staatsverständnisses
Daß es bei parlamentarischen Wahlen nur um die Bestellung des kleineren Übels gehen kann, sollte sich herumgesprochen haben. Und dennoch kommt es gelegentlich vor, daß bei derart prosaischen Vorgängen ein utopisches Moment aufblitzt, ein qualitativer Sprung, etwas wirklich Neues ins Haus steht. Das ist sogar bei dieser Wahl der Fall – allen Finanzierungsvorbehalten zum Trotz.
Es geht um eine Reform, die vergleichsweise wenig kostet und auf die sich sowohl Bündnisgrüne als auch SPD mehr oder minder diskret verpflichtet haben: die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Derzeit scheint Konsens zu sein, daß nicht nur die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert, sondern sogar ein, wenn auch begrenztes, ius soli etabliert wird: Kinder von mindestens einem Elternteil, der dauerhaft hier lebt, erhalten mit der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft. Das ist pragmatisch angemessen, humanitär wohl begründet und pädagogisch vernünftig – läuft aber zudem auf auf eine revolutionäre Umgestaltung der deutschen Nation hinaus.
Mit dem nur in einer rot-grünen Koalition durchsetzbaren ius soli wird der seit 1945 laufende Revisionsprozeß einer seit den Befreiungskriegen 1813 und spätestens seit der Reichsgründung 1871 verfehlten deutschen Nationalidee abgeschlossen: Mit der Niederlage Nazideutschlands, der re-education, mit Grundgesetz, parlamentarischer Demokratie und dem Beitritt zur Nato wurde die Idee eines außenpolitischen Sonderweges zwischen Ost und West bzw. das Ideal eines zwar undemokratischen, aber doch rechtsstaatlichen Gemeinwesens aufgegeben.
Mit der Kulturrevolution von 1968 wurden die noch bestehenden autoritären Mentalitäten und Institutionen geschleift und allmählich durch konfliktreiche, zivile, aber alles in allem fruchtbarere und gerechtere Strukturen in Familien und Bildungseinrichtungen ersetzt. 1990 gewannen schließlich nicht nur die Ostdeutschen ihre politische Freiheit, sondern auch das staatliche Territorium in Form endgültiger Grenzen seine abschließende vertrauenerweckende Gestalt.
Bei alledem überdauerte das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene, unter Wilhelm II. kodifizierte, völkisch-exklusive Staatsangehörigkeitsrecht. Mochte das wilhelminische Reich verschwunden, die Weimarer Republik gescheitert, der rassistische Nationalsozialismus in Blut und Tränen untergegangen sein – das Staatsangehörigkeitsrecht überstand alle Brüche. Die Deutschen bilden als Nation bis heute – anders als US- Amerikaner oder Franzosen – noch immer keine der Zukunft zugewandte, auf Kooperation und gemeinsame Freiheit gerichtete Willens-, sondern eine auf ängstlicher Abgrenzung beharrende Abstammungsgemeinschaft.
Kein anderes großes westliches Land, auch nicht die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien, hat in den letzten Jahren relativ und absolut so viele Immigranten aufgenommen wie die Bundesrepublik. Zugleich tut sich kein anderes Land so schwer, diesen Teil seiner Bevölkerung politisch zu integrieren und sich damit selbst zu emanzipieren. Im konservativen Wunsch nach einem ökonomisch vorteilhaften und ansonsten schiedlich-friedlichen Zusammenleben mit sogenannten ausländischen Mitbürgern artikuliert sich der wilhelminische Untertanengeist ein letztes Mal: die Sehnsucht nach einem Leben ohne Politik, einer ökonomischen Sphäre ohne Konflikte, einer Kultur ohne Differenzen, kurz: einer bürgerlichen Gesellschaft ohne Freiheit.
Die ungelösten Widersprüche dieses Wunsches – die nicht lösbare Spannung zwischen renten- und beschäftigungspolitischer Verwiesenheit auf Immigration hier und der Sehnsucht nach einem unpolitischen Zusammenleben dort – entladen sich dann in hektischen Debatten über die „Ausländerkriminalität“ sowie zunehmendem Rassismus unter jungen Leuten. Das ist keineswegs nur ein Problem der Deutschen. Auch viele Immigranten haben sich – wie nicht anders zu erwarten – diesen Umständen angepaßt und verstehen sich selbst, obwohl sie Jahrzehnte hier leben, als unpolitische „Zuwanderer“, für die ihr und ihrer Kinder Lebensmittelpunkt nur ein ausgedehnter Arbeitsplatz ist. Das wahre Leben findet dann im Ruhestand irgendwo anders statt.
Daß die Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften überfällig und ein geändertes Staatsbürgerschaftsrecht wünschenswert sind, scheint zwischen SPD und Bündnisgrünen selbstverständlich zu sein. Weniger Einverständnis besteht über Sinn und Notwendigkeit eines Einwanderungsrechts, von dem viele meinen, daß es überflüssig sei, weil seine Quoten ohnehin nicht einzuhalten sind.
Unter der Perspektive eines geänderten Selbstverständnisses, ja einer Neugründung der deutschen Nation in Europa ist ein solches Gesetz indes unabdingbar. Jenseits aller Ökonomie geht es nämlich um die überfällige Selbstanerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft, um die Beendigung einer 40 Jahre währenden Lebenslüge. Es ist keineswegs gleichgültig, wie ein solches Gesetz heißen wird. Daran, ob Rot-Grün dieses Gesetz „Einwanderungsgesetz“ oder kleinmütig „Zuwanderungskontrollgesetz“ nennt, wird sich erweisen, ob diese ohnehin von ökonomischen Sachzwängen eingekesselte Koalition den Mut zu wesentlichen Änderungen wenigstens dort haben wird, wo keine Kosten entstehen.
In einem ist sich die Immigrationsforschung einig: Einwanderungsgesellschaften sind – sofern entsprechend politisch verfaßt – in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht von hoher Dynamik, Immigranten gehören zu den besonders innovativen Gruppen. Die Jahrzehnte währende Stagnation im Staatsangehörigkeits- und Ausländerrecht hat dazu geführt, ein großes Potential brachliegen zu lassen. Lähmung und Meltau, die über dem Land liegen, resultieren nicht zuletzt aus der Resignation, die die Immigranten ergriffen hat und sie zunehmend in Selbstisolation und Extremismus treibt. Eine nicht mehr völkisch verfaßte Nation wird die kreativen Kräfte dieses Potentials entfesseln.
Neben der ökologischen Steuerreform wird sich ein neues Staatsangehörigkeits- und Einwanderungsrecht als Schlüssel für eine ökonomische Erholung, für neue Jobs und eine erhöhte Binnennachfrage erweisen, wie zumal die liberale Volkswirtschaftslehre weiß. Diese Chance zu ergreifen, bedarf es jenes Muts, den die SPD alleine nicht aufbringen wird. Werden die Bündnisgrünen die historische Chance, die sich hier bietet, nutzen? Micha Brumlik
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hier und der Sehnsucht nach einem unpolitischen Zusa
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