Unser Quellendorf soll sauber werden

Norbert Lindner heißt jetzt Michaela. Der transsexuellen Bürgermeisterin droht die Abwahl, sie gilt als „Schande fürs Dorf“  ■ Von Jens Rübsam

Als Bürgermeister Norbert Lindner Mitte Mai seinen Gemeinderäten in nichtöffentlicher Sitzung anvertraute, er sei transsexuell, er plane eine Geschlechtsumwandlung, er wolle eine Frau werden und schon jetzt den Namen Michaela tragen, tat er das in dem Glauben, fortan ein „glücklicheres Leben“ führen und „weiterhin Bürgermeister von Quellendorf“ sein zu können.

Zwei Jahre im Amt hatte der Bürgermeister damals hinter sich, das Dorf stand recht ansehnlich da. Ein neues Feuerwehrgerätehaus. Ein neuer Jugendklub. Mehr Einwohner, genau 1048. Immer noch ein Kindergarten, immer noch eine Schule im Dorf. Und nun war auch noch das Coming-out geschafft. „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“, sagte Norbert Lindner den Gemeinderäten an jenem Abend. Einer steckte das der Bild-Zeitung.

Ein schöner Sommertag, dieser Donnerstag vergangener Woche. Vielleicht der letzte in diesem Jahr. Die Bäckersfrau schließt um eins den Laden ab, am türkischen Imbiß beißen die Jugendlichen sich an ihrem Döner fest. Die Alten aus Quellendorf haben im Garten zu schaffen, an den Bäumen hängen fette Pflaumen und Birnen. „Mit Gurken“, sagt einer, „war es dieses Jahr nichts.“ Um viertel nach zwei halten zwei große Busse vor der Schule, die Kinder kommen nach Hause. Die Bäckersfrau hat den Laden wieder aufgesperrt. Auf dem Friedhof pflegen Dorfbewohner die Gräber. Gepflegte Idylle in der anhaltinischen Provinz.

In Quellendorf ist nichts mehr, wie es einmal war

Durchs Dorf fährt eine Frau in einem schwarzen Audi. Es ist die Bürgermeisterin. Sie trägt schwarze Pumps und goldene Ohrringe, auf dem Rücksitz liegt ein Handtäschen aus feinem Leder. Michaela Lindner kommt vom Friseur, die Haare frisch getönt, kastanienbraun. Sie grüßt durch die Scheibe. Niemand grüßt zurück. „Ich will provozieren“, sagt sie über solche Gesten, „ich fordere die Leute heraus, sich mit mir auseinanderzusetzen.“

Am Abend wird der Gemeinderat ein Abwahlverfahren einleiten. „In Quellendorf ist nichts mehr so, wie es einmal war“, wird der stellvertretende Bürgermeister Pforte sagen. Er hat nicht ganz unrecht. Tage nach der vertraulichen Mitteilung Norbert Lindners an seine Gemeinderäte hatte Bild getitelt: „Bald heiße ich Michaela.“ Wenig später hieß es: „Darf Norbert als Michaela regieren?“ Da hatten schon 175 Quellendorfer ihre Unterschrift gegeben – gegen Lindner als Bürgermeisterin. Der Gemeinderat sah „das Vertrauen der Bürger“ nicht mehr gegeben. Eine „Schande für das Dorf“ sei Michaela Lindner, meinten die einen. Eine „Schwuchtel, die nicht hierhergehört“, nannten sie andere. „Was bei Tieren nicht vorkommt, kann es bei Menschen nicht geben“, hörte man. Schließlich habe man einen Mann, keine Frau gewählt. Bald kursierten Gerüchte: „Im Jugendklub hat sie schon in Kleidern getanzt.“ Herzlichen Applaus gab es am Donnerstag abend, als sechs von acht Gemeinderäten den Beschluß abnickten. Am 29. November ist Abwahltag.

Jutta Lindner wird dann nicht mehr in Quellendorf wohnen. Sie sitzt in der Wohnstube des kleinen Eigenheims, nimmt Anrufe entgegen und notiert alles gewissenhaft. Drei Frauen wünschen ihrem Mann – „für mich ist Michaela noch immer mein Mann“ – alles Gute. Eine fühlt sich an die „Hexenverbrennungen im Mittelalter“ erinnert. Fernsehsender bitten um Interviews. Ein Politiker der Bündnisgrünen will helfen. Michaela Lindner ist in der PDS.

Vor zwei Jahren war Norbert Lindner mit über 60 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Quellendorf gewählt worden. Im Frühjahr kandidierte er für den Landtag Sachsen-Anhalts. Er bekam 7.873 Stimmen im Landkreis Köthen, nur 4.000 weniger als die Siegerin von der SPD. Den Sprung in den Landtag schaffte er nicht, dafür stand er in der Landesliste der PDS zu weit hinten.

Heute zeigt sich die PDS erkenntlich, sie unterstützt den, wie es heißt, „bundesweit ersten Transexuellen in einer Leitungsfunktion“. Für Britta Ferchland, die stellvertretende Landesvorsitzende, widerspricht das Abwahlverfahren „dem Grundgesetzgebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde“. Der Abgeordnete Matthias Gärtner will prüfen, „ob hier nicht das vom Landtag verabschiedete Antidiskriminierungsgesetz greift“. Ein Vertreter des Landratsamtes empfahl den Gemeinderäten: „Was in Quellendorf in den vergangenen Jahren passiert ist, ist mit dem Kopf und mit den Händen passiert, nicht mit dem Geschlechtsteil.“

Wieder klingelt das Telefon. „Lindner“, meldet sich Jutta Lindner. „Sie wollen Frau Lindner sprechen? Welche Frau Lindner?“ fragt sie. So geht das täglich, seitdem bekannt ist, daß Herr Lindner Frau Lindner ist. Viele positive Anrufe, vor allem von Frauen. Nur einer, ein Mann, schrie in den Hörer: „Wo ist das Schwein? Das müßte man umbringen.“ Nein, Jutta Lindner muß sich das nicht antun.

Sie wird wegziehen von Quellendorf. Das Haus aufgeben, das sie sich vor zwei Jahren gebaut haben und das heute noch nicht fertig und noch lange nicht abbezahlt ist. Sie wird sich trennen von „Michi“, wie sie Michaela nennt. „Räumlich trennen“, so wie sie es die vergangenen zwei Monate schon getan haben. Sie brauchte Abstand und Zeit, die beiden Töchter brauchten Abstand und Zeit, „weil eine Welt zusammengebrochen ist“. Nicht erst jetzt, seitdem gehetzt wird im Dorf und fast niemand mehr grüßt. Nein, schon vor einem Jahr als, „mein Mann mir seine Transsexualität gestand“ und „ich auf einmal eine Frau lieben sollte“.

Norbert Lindner hatte sich den Bart abgenommen, die Haare lang wachsen lassen, 25 Kilo abgespeckt, angefangen sich zu schminken, Ohrringe, Kleider und Röcke zu tragen. Komische Röcke. „Schauen Sie mal.“ Jutta Lindner geht zum Schrank, holt einen Minirock hervor, dunkelblau mit Blümchenmuster. „Sein erster Rock. So etwas zieht doch keine Frau an!“ Sie lächelt ein verzweifeltes Lächeln. Selbsthilfegruppen für Partner von Transsexuellen gibt es in Sachsen-Anhalt nicht.

Auf den Straßen in Quellendorf befragen Journalisten die Einwohner. Sie bekommen zu hören, was sie hören wollen. Knackige O-Töne. „Wenn das mein Sohn machen würde, würde ich ihn aus dem Haus jagen.“ „Wenn der morgens bis abends gearbeitet hätte, wäre er nicht auf solche Gedanken gekommen.“ Hätte Michaela Lindner dies gehört, sie hätte nur schmunzeln können. Sie hat gearbeitet, von morgens bis abends. „Arbeit war meine Verdrängung.“

Das Haus. Immer wieder am Haus gewerkelt. Vom ersten Spatenstich bis zum letzten Tropfen Farbe, Lindners haben alles selbst gemacht. Die Firmen. Zwei Unternehmen hatte Michaela Lindner gegründet und wieder aufgegeben, jetzt ist sie selbständige Ingenieurin. Das Bürgermeisteramt, ehrenamtlich. Die Sitzungen, die Sprechstunden. Und die Parteiarbeit, nebenbei. „Wir hatten keine Zeit füreinander“, sagt Jutta Lindner. Keine Lust auf Sex. Wenn überhaupt, sei es wie eine Pflicht gewesen. Es sind Erklärungsversuche einer Frau, die nicht begreifen kann, von den Wünschen ihres Partners nicht schon früher gemerkt zu haben. Immerhin kennen sich Lindners 19 Jahre, seit 16 sind sie verheiratet.

Michaela Lindner erzählt das etwas anders: „Im Bett hat es nicht geklappt, weil ich immer die andere Rolle spielen wollte.“ Ausgesprochen allerdings hat sie das nicht. Statt dessen fuhr sie nach Frankfurt am Main oder Hamburg, zog sich auf der Autobahn Frauenkleider über, lebte sich aus, fuhr zurück, zog sich in Raststätten wieder um, und kam als Norbert Lindner in Quellendorf an. Als Seelenakrobatik auf der Autobahn könnte man das bezeichnen. Euphorie und Depression bei 120 Stundenkilometern.

Laut maulen, leise zischeln, hämisch grinsen

Bis zu jenem Tag, als sie sich in einer öffentlichen Ratssitzung zu ihrer Transsexualität bekannte und in den Jugendklub ging, um die Kids aufzuklären. Sie sprach mit ihnen von „Krankheit“ und der medizinischen Versorgung, die notwendig ist: Hormonbehandlung, Epilation, schließlich psychologische Betreuung und Geschlechtsumwandlung.

Im Jugendklub sitzen die, die von den „Simpsons“ mehr wissen als von Transsexualität. „Simpsons“-Schauen ist Pflicht im Quellendorfer Jugendklub. Es darf geraucht werden. Getrunken? Bier? Na ja. Remo hat heute Geburtstag, er gibt eine Runde aus. Dem Bürgermeister haben sie vergangenes Jahr einen blauen Kognakschwenker mit goldener Aufschrift geschenkt. „Dem Herrn Lindner“, sagen sie, „haben wir schließlich den Klub zu verdanken.“ Und dann sagen sie noch: „Er soll Bürgermeister bleiben.“ Lindner hat ihnen das Du angeboten.

Aber das Sagen im Dorf haben die Alten, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, wie man Transsexualität buchstabiert, die niemanden dulden, der nicht in das übliche Frau-Mann-Schema paßt, die Schauprozesse anstrengen, um Ordnung zu schaffen im Dorf.

Wie an diesem Donnerstag in dem kleinen Klasssenzimmer der Grundschule Quellendorf. In speckigen Hosen sitzen die Bürger des Dorfes auf Kinderstühlen, die Arme streng vor der Brust verschränkt, maulen laut, zischeln leise und grinsen hämisch, als die Frau Bürgermeisterin, adrett gekleidet und fein geschminkt, des Raum betritt und sich selbst einen Stuhl suchen muß. Die Einleitung des Abwahlantrages ist schnell beschlossen, zufriedenes Grummeln. Wenig später, die Einwohnerfragestunde hat begonnen, sagt einer der älteren Herren: „Im Zuge der Säuberung unseres Dorfes“, er legt eine kurze Pause ein, „muß man sich auch um verwahrloste Ecken kümmern.“