: Angst vor der Rache der Taliban
Seit dem US-Angriff auf angebliche Terroristenlager in Afghanistan haben die meisten internationalen Hilfsorganisationen ihre Mitarbeiter abgezogen. Die Folgen für die Bevölkerung sind fatal ■ Von Thomas Ruttig
Berlin (taz) – Die Cruise-Missiles, die US-Präsident Bill Clinton am 20. August auf angebliche islamistische Terroristenlager in Afghanistan abfeuern ließ, haben dort indirekt auch die entwicklungspolitischen Strukturen getroffen. Besonders die über 150 ausländischen Nichtregierungsorganisationen leiden darunter, daß seither die UNO ihr ausländisches Personal vollständig abgezogen hat, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) 69 seiner 89 Vertreter. Der Grund ist die Furcht vor der Rache der Taliban.
Die Islamisten „unterscheiden nicht zwischen Westlern“, begründet ein UN-Mitarbeiter den Schritt, „wir alle könnten mit Amerikanern verwechselt werden“. Besonders hart traf kleinere Hilfswerke, daß die Europäische Union in einer „solidarischen Geste“ mit den USA ihre Finanzhilfe für Afghanistan stoppte. Von „verheerenden Auswirkungen“ dadurch spricht die deutsche Krankenschwester Karla Schefter in einem Brief.
Schefter war noch während der sowjetischen Besetzung des Landes in die von den Mudschaheddin kontrollierten Gebiete gegangen und hatte in der Kleinstadt Tschak-e Wardak eine Mutter- und-Kind-Klinik aufgebaut. Die Grundfinanzierung dafür kam bis vor kurzem von der EU. Jetzt lebe man von „privaten Spendengeldern, die in Kürze aufgebraucht sind“, schreibt Schefter. „Konsequenz: Wir müssen das Hospital schließen.“
Das Krankenhaus in Tschak mit seinen 40 Betten, davon 20 ausschließlich für Frauen und Kinder, ist das einzige für die 400.000 Menschen in der Provinz Wardak. Aber in den über neun Jahren seit seiner Gründung wurde es auch zum Anlaufpunkt für viele Einwohner Kabuls und anderer Provinzen. Die UNO nutzte es für ihre Impfprogramme. Sechs Ärzte, zwei Anästhesisten, zwei Laboranten, Röntgentechniker, Pfleger sowie das Personal für Küche, Bäckerei und Wäscherei arbeiten dort ständig, ein Drittel sind Frauen. Dazu kommen afghanische Ärzte aus Pakistan und Deutschland. Über 40 Operationen im Monat sind keine Seltenheit. Die Mitarbeiter erhalten für deutsche Verhältnisse lächerlich geringe Gehälter: umgerechnet 170 Mark für Ärzte, 120 für Schwestern und Pfleger sowie 60 für Hilfskräfte. In Afghanistan garantieren solche Summen das Überleben ganzer Familien.
1993 gründete die Belegschaft das „Komitee zur Förderung humanitärer und medizinischer Hilfe für Afghanistan“ (CPHA). Dessen Grundsatz ist es, allen Patienten Hilfe zu leisten, unabhängig von Ethnie, Religion oder Parteizugehörigkeit. Ein CPHA-Ableger in Deutschland und die französische Partnerorganisation MRCA versuchen, Gelder dafür aufzutreiben.
Das Hospital von Tschak konzentriert sich auf die Aus- und Weiterbildung afghanischer Frauen. Schefter organisierte Lehrgänge unter anderem für afghanische Gesundheitshelferinnen, Krankenschwestern, Physiotherapieassistentinnen, Hebammen und Betreuerinnen für behinderte Frauen und Kinder. Der bisher letzte Kurs mit 14 Teilnehmerinnen begann Ende August. Die Führung der Taliban lobt die zunächst nur geduldeten Krankenhausmitarbeiter ausdrücklich für ihre „gute Arbeit“.
Da die Kursteilnehmerinnen nach Anweisung der Taliban von männlichen Verwandten begleitet werden müssen, bewirkt die Arbeit des Hospitals für Afghanistan unerhört emanzipatorische Nebeneffekte. „Die Väter übernahmen die mitgebrachten Kleinkinder während des Unterrichts“, berichtet Schefter. „Die älteren Männer brachten den Tee oder das Essen. Es wurden Eimer mit heißem Waschwasser zu den Frauen geschleppt und andere Wünsche erfüllt. Es hatte ein Rollenwechsel stattgefunden.“
Schefter hat in ihrem als „SOS- Ruf“ apostrophierten Brief ihre deutschen Unterstützer um verstärkte Spenden gebeten, denn wann wieder EU-Gelder fließen, ist nicht absehbar.
Ungewiß ist auch die Wiederaufnahme der UN-Programme. UN-Mitarbeiter vor Ort rechnen nicht damit, daß dies in den nächsten zwölf Monaten geschehen wird – falls überhaupt. Mit Ausnahme des Roten Kreuzes und eines christlichen Hilfswerks sind in Kabul keine ausländischen Helfer mehr präsent. Und in den meisten Provinzen des Landes sieht es ähnlich aus. Aufgrund des sich bereits seit Monaten hinziehenden Konflikts zwischen den Taliban und den internationalen Hilfsorganisationen haben die meisten ausländischen Helfer das Land verlassen.
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