: Folgenschwere Zeckenbisse
Zunächst ist es nur ein gewöhnlicher Zeckenbiß. Nach einigen Tagen schon können die ersten Krankheitssymptome auftauchen. Lyme-Borreliose ist eine vernachlässigte Krankheit. Denn obwohl sich jedes Jahr Zehntausende mit ihr infizieren, wird die bedrohliche Infektion häufig auch von ÄrztInnen nicht erkannt ■ Von Britta Lemke
Bis in den Herbst hinein lauern sie auf Sträuchern, Büschen und hohen Gräsern und warten auf ein Opfer. Ixodes ricinus, die zu den Spinnentieren gehörende Zecke, benötigt zu ihrer Entwicklung und Reproduktion das Blut von Säugern. Das im Volksmund auch als Holzbock bezeichnete Tier produziert zwar kein Gift, kann aber gefährliche Krankheitserreger auf den Menschen übertragen.
Epidemiologen schätzen, daß hierzulande jährlich 30.000 bis 80.000 Menschen an der durch Zecken übertragenen Lyme- Borreliose erkranken. Trotz der hohen Infektionsrate wird diese bakterielle Erkrankung in der Öffentlichkeit und bei Medizinern immer zuwenig beachtet.
Die Gefährlichkeit von Zeckenbissen wird vornehmlich in den süddeutschen Raum verbannt und zumeist mit der seltenen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), einer ebenfalls von Zecken übertragenen und durch ein Virus ausgelösten Hirn- und Hirnhautentzündung, assoziiert. Bekannte Verbreitungsgebiete dieser Krankheit sind vor allem Österreich, Bayern und Baden-Württemberg. Impfkampagnen gegen die FSME verschleiern die Infektionsgefahr der wesentlich häufigeren und im gesamten Bundesgebiet verbreiteten Lyme-Borreliose, gegen die es bisher keinen Impfschutz gibt.
Medizingeschichte schreibt die Krankheit seit 1975, als zwei engagierte Bewohnerinnen der Stadt Lyme im US-Bundesstaat Connecticut die Medizinwelt hartnäckig auf eine Häufung unklarer Gelenkbeschwerden mit begleitenden Beschwerden des Herzens und des Nervensystems aufmerksam machten. Epidemiologische Forschungen führten auf die Fährte von Insekten und anderen Gliederfüßern. Fünf Jahre später entdeckte dann der Baseler Willy Burgdorfer das krankheitsauslösende Bakterium im Darm von Zecken. Der spiralförmige Einzeller erhielt den Namen Borrelia burgdorferi.
Der klassische Verlauf der Krankheit vollzieht sich in drei Stadien. Zu Beginn der Infektion kann sich nach Tagen oder Wochen um die Bißstelle herum eine ringförmige Rötung zeigen, die später von innen heraus verblaßt. Ein verläßliches diagnostisches Kriterium ist diese Wanderrötung nicht, denn sie zeigt sich nur bei etwa vierzig Prozent aller infizierten Menschen. Auch ohne sie kann es zu weiteren Krankheitszeichen kommen. Diese bestehen zu Beginn meist in Kopf- und Gliederschmerzen, Lymphknotenschwellungen, Fieber und starker Abgeschlagenheit.
Nach weiteren Wochen oder Monaten breitet sich die Infektion im Körper aus, das Bakterium verursacht Entzündungen von Gelenken, Herz, Haut oder Nervensystem, die sich in Schmerzen, Mißempfindungen oder sogar Lähmungen äußern. Das chronische dritte Stadium entsteht nach weiteren Monaten bis Jahren bei fehlender oder unzureichender Behandlung. Hartnäckige Entzündungen und bleibende Organschäden sind die Folge.
Die von der Borreliose gezeigte Symptomkette ist vielfältig und führt – zumal ein Zeckenbiß oft unbemerkt verläuft oder in Vergessenheit gerät – nicht selten auf eine falsche Fährte. Das „Chamäleon“ Borreliose kann einen Bandscheibenvorfall ebenso imitieren wie eine multiple Sklerose oder einen Schlaganfall. Chronische Gelenkbeschwerden, Herzrhythmusstörungen, Muskel- und Nervenschmerzen werden vielfach symptomatisch behandelt, ohne daß die Zeckeninfektion als eigentliche Ursache erkannt wird. Diffuse Symptome wie Schwindel, Übelkeit, chronische Magenschmerzen, verschwommenes Sehen, Blasen- und Sexualstörungen lassen die Krankheit schnell als ein psychosomatisches Syndrom erscheinen. Vor allem aber die von der Borreliose hervorgerufenen Depressionen, Ängste und Konzentrationsstörungen rufen schnell den Psychiater auf den Plan.
Labordiagnostische Unsicherheiten tragen ein übriges zum Diagnosechaos der tückischen Erkrankung bei. Der Nachweis von Antikörpern im Blut oder Nerven wasser ist derzeit das Mittel der Wahl, doch fehlt es an Standardisierungen des Verfahrens. Eine zweifelsfreie Diagnose anhand dieser Parameter ist nicht immer möglich.
Auch bricht die Krankheit bei manchen Menschen erst Jahre nach dem längst vergessenen Zeckenbiß aus. Die einzelnen Stadien könen übersprungen werden oder sich in untypischen Zeiträumen manifestieren. So ist es fast die Regel, daß Patienten erst eine monate-, manchmal sogar jahrelange Odyssee durch Ärztepraxen hinter sich bringen müssen, bis eine richtige Diagnose gestellt wird.
Dabei ist ein möglichst frühes Erkennen der Infektion wichtig. Denn die Therapie mit Antibiotika verläuft nur in einem frühen Stadium ohne Komplikationen. Besteht die Krankheit schon länger, ist ihre Behandlung langwierig und schwierig. Ein vollständige Heilung ist dann oft nicht mehr möglich.
Eine chronische Borreliose-Infektion hinterläßt Spuren im Immunsystem ebenso wie im Nervengewebe und an den Gelenken. Muskelschwächen, Steifheit, Lähmungen, anhaltende Schmerzen und ein Allgemeinzustand, der den Kriterien des chronischen Müdigkeitssyndroms entspricht, machen das Leben äußerst schwierig. Viele Patienten sind dauerhaft arbeitsunfähig und für längere Zeiten bettlägerig. In diesem Zustand werden die Betroffenen von ärztlicher Seite oft allein gelassen. Häufig gelten sie als austherapiert oder gar als eingebildete Kranke. Gefördert wird dies noch dadurch, daß die Therapie der Borreliose nicht gerade billig ist und deutliche Spuren im eh schon gebeutelten ärztlichen Budget hinterläßt.
Wie seit ihren Anfängen in den USA ist die Geschichte der Lyme-Borreliose in Deutschland auch eine Geschichte der Patienteninitiativen. Selbsthilfegruppen leisteten einen enormen Beitrag zur Aufklärung und Unterstützung der Betroffenen. Im letzten Jahr schlossen sich die in vielen Regionen existierenden Selbsthilfegruppen zur Gründung eines gemeinsamen Dachverbandes zusammen. Nach Auskunft der Mitarbeiter besteht ein enormer Informationsbedarf in der Öffentlichkeit. Oft fehle selbst den Ärzten das elementarste Wissen über Vorkommen und Infektionsrisiken der Borreliose. Vor wenigen Monaten ist die erste Ausgabe des Borreliose-Magazins erschienen, der Zeitschrift des „Bundesverbandes Deutscher Borreliose-Selbsthilfegruppen“.
Um die Borreliose in den Griff zu bekommen, haben Wissenschaftler aus Heidelberg und Freiburg eine neue Strategie entwickelt. Die Immunologen Michael Kramer und Reinhard Wallich von der Universität Heidelberg sowie Markus Simon vom Freiburger Max- Planck-Institut für Immunologie wollen die Bakterien mit spezifisch reagierenden Antikörpern bekämpfen. Die trickreichen Krankheitsheitsauslöser nisteten sich in Geweben ein, in denen sie sowohl vor dem Immunsystem als auch vor Antibiotika weitgehend geschützt seien, berichteten die Wissenschaftler vor kurzem bei der Vorstellung ihres neuen Forschungsansatzes. Mit Antikörpern könnten die Bakterien jedoch überlistet werden. Erste erfolgreiche Versuche an Tieren sind inzwischen angelaufen.
Vor wenigen Monaten wurde die drei Forscher ausgezeichnet. Sie erhielten für die Entwicklung eines Impfstoffes gegen die in den USA grassierende Lyme-Borreliose den mit 100.000 Mark dotierten Robert-Pfleger-Preis. Der Impfstoff ist dort bereits auf dem Markt. In den USA ist nur ein Bakterienstamm für die Krankheit verantwortlich. Für Europa muß jedoch ein abgewandelter Impfstoff entwickelt werden, da es hier drei verschiedene Varianten des Erregers gibt. Das macht die Entwicklung eines sogenannten trivalenten Impfstoffes notwendig, welcher jedoch bisher nur bei Tieren funktioniert. Die Weiterentwicklung des Impfstoffes erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Zoologischen Institut an der Universität NeuchÛtel in der Schweiz. Gerechnet wird mit der Zulassung in den nächsten Jahren.
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