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Wettlauf mit dem Storch

In europaweit einzigartigen Wagen rasen Hebammen zu Frühgeburten. Manchmal endet die Fahrt mitten auf der Straße  ■ Von Kirsten Küppers

Döner macht nicht dick“, sagt Feuerwehrmann Michael Richter strahlend und beißt beherzt in seinen Imbiß. Silke Morawietz nickt. „Wer nachts arbeitet, braucht Kraft“, meint sie. Die schlanke 39jährige hält sich an Haribo-Lakritzkonfekt. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen die rotblonde Hebamme mit der Hochsteckfrisur und ihr stämmige Fahrer mit dem Bürstenschnitt auf einer beigefarbenen Polstergarnitur. Ihr kahles Dienstzimmer befindet sich im Krankenhaus Friedrichshain. Auf dem großen Fernsehbildschirm läuft das Neueste über Clintons Sexskandale. Es riecht nach frischem Kaffee. Die beiden müssen wach bleiben.

Plötzlich schrillt der Pieper. Silke Morawietz springt auf. Hebamme und Fahrer hasten zu dem roten Rettungswagen mit dem Storchenaufkleber auf der Seite. Michael Richter gibt Gas. Der Geburtshilfewagen rast mit Blaulicht in Richtung Friedrichsfelde.

In einer engen Wohnung in einem Plattenbau liegt ein 15jähriges stupsnäsiges, hochschwangeres Mädchen auf dem elterlichen Sofa. Daneben steht schüchtern und blaß ihr 19jähriger Freund mit Basecap. Die im Arzt-Look angezogene Silke Morawietz stellt sich vor. „Die weißen Kleider beruhigen. Wenn ich komme, fällt erst mal die Anspannung ab“, weiß sie. „In diesem Beruf braucht man viel psychologisches Geschick.“ Geschäftig scheucht sie den 19jährigen, Feuerwehrmann Richter und den besorgten Vater des Mädchens aus dem Raum. Die Mutter schließt unsicher die Tür. Morawietz tastet mit Gummihandschuhen Bauch und Gebärmutter der Schwangeren ab. Es wird keine ungewollte Hausgeburt geben. Die Zeit reicht noch für den Weg ins Krankenhaus. Nervös umarmen die Eltern ihre Tochter. Der werdende Vater trägt schüchtern eine Sporttasche hinterher. Im Hebammenmobil wird die schwitzende junge Frau auf eine Liege gelegt. Scheu hält das Paar Händchen. Mit beruhigenden Worten schließt die Hebamme ein Herztonmeßgerät an. Der blubbernde Herzschlag des Embryos übertönt im Innern des Wagens das Martinshorn. Im Oskar-Ziethen-Krankenhaus übergibt Morawietz die Schwangere den Schwestern. Auf der Fahrt ist die Fruchtblase geplatzt. Die junge Frau schämt sich, weil Fruchtwasser ihre Beine herunterrinnt. „Alles Gute!“ ruft Silke Morawietz – schon ist sie wieder unten im Wagen, bereit für den nächsten Ruf des Piepers.

Morawietz' Hebammenmobil gibt es in Ost-Berlin seit 1985. Nach der Wende drohte ihm das Aus. „Im Westen war man sehr skeptisch, weil es eine Sache aus dem Osten war“, erzählt Silke Morawietz kopfschüttelnd, „die kannte man nicht.“ Doch die Hebammen kämpften für ihren „Storchenwagen“, sammelten Unterschriften – mit Erfolg. Inzwischen ist ihr Geburtshilfemobil so beliebt, daß seit 1992 ein zusätzlicher Wagen durch die Stadt fährt, um schwangeren Frauen in Entbindungsnot zu helfen. Zu rund 4.200 Einsätzen rückte das Geburtshilfemobil im letzten Jahr aus. Die Hälfte der Frauen, die den Hebammennotdienst in Anspruch nehmen, sind Migrantinnen.

Berlin ist die einzige Stadt in Europa, die den Geburtshilfe-Service anbietet: Setzen die Wehen ein, kann man über den Notruf der Feuerwehr nach einer Hebamme rufen. Die Feuerwehr stellt auch den Rettungswagen samt Fahrer. Für die Hebammen und ihre medizinische Ausrüstung sind zwei Kliniken zuständig: das Krankenhaus Im Friedrichshain und das Neuköllner Frauenkrankenhaus am Mariendorfer Weg. Das Hebammenmobil ist ausgestattet „wie ein kleiner Kreißsaal“, lobt Silke Morawietz. Sie führt, während sie auf den nächsten Einsatz wartet, stolz den Inkubator, den Babybrutkasten, vor. Wenn sie von ihrer Arbeit spricht, kommt sie ins Schwärmen. „Manchmal müssen wir rechts ranfahren und das Baby im Wagen zur Welt bringen“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. „Als Geburtsort tragen wir dann die Straßenkreuzung ein.“

Wieder zurück im Dienstzimmer, gilt es jetzt, die Zeit vor dem nächsten Einsatz totzuschlagen. Fahrer und Hebamme zeigen sich Familienfotos, knabbern Erdnußflips und gucken Musikvideos. „Man weiß nie, was passieren wird“, kündigt die Geburtshelferin an. Seit zwanzig Jahren ist sie Hebamme und selbst Mutter zweier Töchter. „Ich könnte in keinem anderen Beruf arbeiten“, beteuert sie. Inzwischen weiß sie, daß in Vollmondnächten und bei Wetterumschwüngen am meisten los sein wird. Dann gebe es besonders viele „Frühchen“, wie die Frühgeburten im Hebammen-Jargon heißen.

Heute kommt erst spät in der Nacht, als Harald-Schmidt-Show und sämtliche Late-Night-Comedies tapfer überstanden sind, der nächste Alarm. Der Geburtshilfewagen braust über den leeren Strausberger Platz. Im Asylbewerberheim in der Lindenstraße hilft ein Libanese seiner wimmernden Frau die Treppe herunter. „Sofort ins nächste Krankenhaus!“ ruft Morawietz dem Fahrer nach vorne zu. Als der wenige Minuten später die heftig stöhnende Frau auf einer Liege in den Fahrstuhl des Urban- Krankenhauses schiebt, zupft der Ehemann ihr das Kopftuch über die Haare. Er muß dolmetschen, seine Frau versteht kein Deutsch. Der Fahrstuhl klemmt. In letzter Sekunde schaffen es die Hebammen, die schreiende Frau im Kreißsaal auf ein Bett zu hieven, als das Kind schon kommt. Wenige Minuten später ist alles vorbei. Die 22jährige hält benommen ihr viertes Kind in den Armen. Ein säuerlicher Geruch hängt in der Luft. Morawietz strahlt. Sie scheint sich fast mehr zu freuen als die erschöpfte Mutter.

Feuerwehrmann Richter hat in der Zwischenzeit unten im Foyer mit dem Krankenhauspförtner eine Zigarette geraucht. Eine halbe Stunde später kann er sein Schwätzchen mit dem Pförtner fortsetzen. Kaum im Friedrichshainer Dienstzimmer angelagt, geht der Pieper schon wieder los. Eine Türkin mit starken Wehen muß ins Urban-Krankenhaus gebracht werden.

„Eine ruhige Nacht“, seufzt Silke Morawietz, als sie um sieben Uhr morgens im Dienstzimmer ihre Sachen für den Heimweg packt. In anderen Schichten mußte sie schon elfmal ausrücken. Trotzdem freut sich Morawitz nach zwölf Stunden Arbeit nur noch auf ihr Bett. Anders Michael Richter. „Bevor ich mich auf meine geschmeidige Matratze werfe“, sagt er, „geh ich einkaufen. Und heute abend tanz' ich in der Disko.“

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