: Am Pflock des Augenblicks
Keine Erinnerung ohne Vergessen – man darf nur nicht an Bären denken. Wie funktioniert das Gedächtnis im Rhythmus der Medien? Und woher kommt das Bedürfnis nach Musealisierung der Vergangenheit? ■ Von Silvia Bovenschen
In einem Kunstmärchen von Wilhelm Hauff erhalten ein Kalif und sein Wesir von einem bösen Zauberer ein Pulver, mit dessen Hilfe sie sich in ein Tier verwandeln können. Sie beschließen, Störche zu werden. Auch die Sprache der Tiere wird ihnen im Zuge dieser Verwandlung verständlich. Das Zauberwort Mutabor kann, laut ausgesprochen, ihre Rückverwandlung bewirken. Es gibt allerdings einen Haken bei der Sache: Sie dürfen als in Tiere Verwandelte nicht lachen. Tun sie es doch, so sind sie zum ewigen Tiersein verurteilt. Natürlich geschieht genau dies: Sie müssen in ihrer Storchengestalt über das Gestelze eines anderen Storchs lachen und sogleich feststellen, daß sie das Zauberwort vergessen haben. Und wie es in den Märchen dann immer geht, erst die blinde Liebe zu einer gleichermaßen verwandelten tagblinden Schleiereule kann den Bann lösen, die Erinnerung beleben, das Zauberwort ins Gedächtnis zurückbringen. Am Ende sind alle glücklich und werden nicht müde, einander die Geschichte ihrer gefährlichen Verwandlung zu erzählen. Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, ist die Mutter aller Musen.
Eine naheliegende Pointe dieses Märchens besteht wohl darin, daß der Mensch, von dem Nietzsche als dem „lachenden“ und „notwendig vergeßlichen“ Tier spricht, im Zuge seiner Menschwerdung seine kreatürliche Herkunft vergessen mußte. Er blickt nun, wie Nietzsche weiter behauptet, keineswegs glücklich, sondern niedergedrückt von der Last seiner Erinnerungen neidisch auf die Geschichtslosigkeit der Tiere zurück. „Betrachtet die Herde“, so beginnt seine „Unzeitgemäße Betrachtung vom Nutzen und Nachteil der Historie“, „die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden (...) an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schmermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen, geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor den Tieren brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt...“
Für den Menschen sei es bestenfalls möglich, fast ohne Erinnerung zu sein, es sei ihm aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Dieser Befund mag die geschichtsgläubigen Zeitgenossen Nietzsches noch verstört haben, für uns heute handelt es sich um eine Trivialität: Ohne Vergessen ist Erinnern nicht möglich, ohne Erinnerung aber verlören wir das, was wir unser Ich nennen.
Was nutzen uns diese Erkenntnisse in der kleinen Welt unserer alltäglichen Sorgen? Das Gedächtnis läßt sich bis zu einem gewissen Grade trainieren, das Vergessen aber nicht. Man kann nicht absichtlich vergessen. Frank Wedekind erzählt von einem Liebestrank, der bewirkt, von einem begehrten Menschen wiedergeliebt zu werden. Auch hier ist ein Tier im Spiel, und es gibt wieder eine Bedingung: Der Trinkende darf nicht an einen Bären denken. Natürlich stellt sich heraus, daß es nun gar nicht mehr möglich ist, das Gebräu zu sich zu nehmen, ohne an einen Bären zu denken. Der Befehl zu vergessen bannt die Erinnerung, und sie tritt uns entgegen in Gestalt eines Tieres. „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist“, heißt es in einer Operette. Es scheint aber, daß uns das gerade nicht gelingen will. Die alltäglichen Vergeßlichkeiten bringen allerlei Verdruß, und bestimmt kommt irgendwann der Tag, an dem wir vor dem Geldautomaten stehen und unseren seit Jahren benutzten Geheimcode vergessen haben. Nach der dritten Fehleingabe zieht der Apparat unsere Scheckkarte ein. Wie im Märchen werden wir bestraft für unsere Vergeßlichkeit. Aber nicht nur das Vergessen macht Schwierigkeiten, auch das Erinnerte ist kein sicherer Besitz. Wir verfügen, wie Adorno schreibt, keinesweg frei und willkürlich über unsere Erinnerungen, nicht einmal über die Legende, die wir unser Leben nennen: „Erinnerungen lassen sich nicht in Schubläden und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unaufhörlich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. (...) Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz versichert sich meint, verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht. Wo sie aber geschützt durchs Vergessene, ihre Kraft bewahren, sind sie gefährlich wie alles Lebendige.“
Denkmäler werden im Bewahren ähnlich
Es scheint fast, als häuften sich in unseren Tagen die kollektiven Anstrengungen, das Lebendige an den Erinnerungen zu tilgen. Das probate Mittel hierfür ist die Musealisierung der Vergangenheit. Ein Bewahrungs-, Restaurierungs-, Archivierungs- und Erinnerungswahn scheint über das Land gekommen zu sein. Und merkwürdigerweise werden unsere Innenstädte, je mehr sich die Denkmalpflege um die Bewahrung oder Wiederherstellung ihrer historischen Eigentümlichkeit bemüht, einander immer ähnlicher.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, der Ignoranz und der Verdrängung das Wort zu reden. Schließlich liefert die Geschichte dieses Landes gute Gründe gegen ein Vergessen des Vergangenen. Es ist aber doch die Frage, ob nicht ein bis in die Wortfolgen und Satzfiguren hineingehendes ritualisiertes Eingedenken das Entsetzen, an das es rühren will, gerade notwendig verfehlt. Es wäre ergiebig, den Streit über das Berliner Holocaust-Mahnmal unter diesem Aspekt zu betrachten. Ein Befürworter dieses Erinnerungsprojekts, Heiner Geißler, reagierte auf das Argument der Kontrahenten, die Besichtigung der historisch erhaltenen Anlagen ehemaliger Konzentrationslager sei dem Zweck der mahnenden Vergegenwärtigung dienlicher als ein ästhetisch umstrittenenes Monument, mit der wohl eher rhetorisch gemeinten Frage: „Wer besucht schon ein Konzentrationslager?“ Diese Frage kann aber nur meinen: daß dem Unwillen, ein Konzentrationslager zu „besuchen“, durch ein Mahnmal in bequemer Nähe Rechnung getragen werden solle. Würde aber ein Mahnmal in bequemer Nähe, das man gern besuchte, der Sache gerecht? Oder soll durch dessen Etablierung an zentraler Stelle dem Erinnerungsunwillen mit einer Erinnerungserzwingung begegnet werden?
Es gibt zu denken, daß die Anstrengungen der Musealisierung einhergehen mit einer Beschleunigung des Vergessens. Wer könnte noch die medial überlieferten Skandale des letzten Jahrzehnts memorieren? Worüber haben wir uns gestern aufgeregt? Über die Entsorgung einer Bohrplattform, über Lauschangriffe, über Hungersnöte in entlegenden Weltgebieten, über Castor-Transporte, über die Spesenabrechnungen einer Politikerin?
Die Erinnerungsrevue dieser Ereignisse steht im Zeichen einer flimmernden Einebnung: Dauerbrenner der Gefährdung rücken diese Vergegenwärtigung gleichwertig neben tagespolitische Skandale. Tschernobyl? Ich bitte Sie, das ist doch schon Jahre her. Nichts mehr von tausendjährigen Verstrahlungen und unvorstellbaren Halbwertszeiten, die uns doch einst so erregten. Dabei ist die Gefahr, die von solchen Kernkraftwerken ausgeht, ja nicht einmal die Gefahr, die von diesem einen Kernkraftwerk ausgeht, keineswegs gebannt. Da davon jedoch nur noch selten die Rede ist, scheint die Sache erledigt im Sinne einer Verunwirklichung. Diese Erledigung kommt uns entgegen, sie entspricht offensichtlich unserer begrenzten Erregungskapazität. Wir sind in der Wahrnehmung von Schrecken und Bedrohlichkeiten und in der Aktualisierung unseres Mitleids auf mediale Dosierungen geradezu angewiesen. Die Medien rhythmisieren unsere Empathie und schenken uns Phasen der Apathisierung.
Unter diesem Aspekt des Kapazitären kommt ein merkwürdig unangemessenes quantitatives Moment in die Sache: Leid und Zahl. Wir fahren auf der Autobahn an einem schweren Unfall vorbei, vorbei an Autowracks, Rettungs- und Polizeiwagen; wir sehen einen Menschen verkrümmt, offenbar verletzt, vielleicht sogar tot am Rande der Straße liegen. Wir sind erschrocken. Einige Zeit später erfahren wir aus den Nachrichten, daß zwei Menschen bei dem Unfall ihr Leben verloren haben. Unsere Erschütterung hat sich nicht verdoppelt.
Wir sehen fern. Wir sehen die schrecklichen Bilder vom Zugunglück bei Eschede. Wir erfahren, daß dabei hundert Menschen getötet wurden. Wenigstens drei Tage lang beherrscht das Unglück die Medien und die Gemüter. In einer der Fernsehdiskussionen, die sofort auf den Plan gerufen werden, gibt jemand einen Hinweis, der von den anderen Teilnehmern offensichtlich als spielverderberisch empfunden wird. Er sagt, daß er die Trauer und den Schmerz, die mit diesem furchtbaren Unglück verbunden seien, in keiner Weise relativieren wolle, und daß ihm auch die öffentliche Erregung verständlich sei, daß ihn aber zugleich der Mangel öffentlichem Gedenkens angesichts Tausender von Verkehrstoten, die allein im Laufe nur eines Jahres zu verzeichnen seien, verwundere. Niemand in der Diskussionsrunde geht auf diesen Hinweis ein. Allein im Jahr 1996 gab es 8.755 Verkehrstote auf unseren Straßen. Wären sie bei einem einzigen Unglück alle zugleich getötet worden, würde man ihrer gedenken. Warum ist es erinnerungswürdiger, wenn Menschen zum gleichen Zeitpunkt leiden und sterben? Für die Opfer ist es vermutlich gleichgültig.
Mitleid je nach der Zahl der Opfer
Die Darstellung zeitgleichen massenhaften Leides, das hat der Holocaust-Film gezeigt, hat Massenwirkung dort, wo sie am Einzel- schicksal den einzelnen nahegebracht wird; statistisch erfaßte ungleichzeitige Einzelschicksale aber, zu welcher Höhe sie sich auch addieren lassen, sinken schnell in die Höhlen der Vergessenheit. Gibt es in den Medien eine Verabredung darüber, welche Opferzahl erreicht werden muß, um ein Memento zu rechtfertigen? Vielleicht geht die Frage nach der Angemessenheit von Mitleid und Eingedenken ja an unseren menschlichen Möglichkeiten vorbei.
Oft haben wir uns gewundert, wenn wir in sogenannten Naturfilmen Tiere sahen, wie sie eben noch einen lebensgefährlichen Angriff knapp überstehend im nächsten Moment ruhig weiteräsen. Wir wissen im Grunde nichts darüber, ob der Schock nicht doch in ihren Gliedern und Seelen weiterwirkt. Offensichtlich ist aber, daß wir die Tiere brauchen, wenn wir die Figuren unseres Erinnerns und Vergessens veranschaulichen wollen. Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, daß sie in der Literatur als „Behältnisse des Vergessens“ fungieren und daß zum Beispiel „Kafka nicht müde wurde, den Tieren das Vergessen abzulauschen!“ Auch das Vergessen ist, so schreibt Benjamin, „niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer neuen Ausgeburten ein...“
Diese Ausgeburten des Vergessens erscheinen in den Märchen und modernen Erzählungen als Tiere, als Monster, als Figuren der Entstellung und der Verwandlung. Und sie künden von unserer Unfähigkeit, uns wirklich zu erinnern und wirklich zu vergessen.
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