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Ein Europäer des kühlen Pragmatismus

Ein Leben ohne Helmut Kohl – eine taz-Serie (Teil 4). Kohl war immer ein europäischer Überzeugungstäter. Was würde uns mit Schröder blühen? Ist er, wie er selbst behauptet, ein „Europäer aus Neigung“? Viel spricht nicht dafür  ■ Von Christian Semler

„Je suis Européen par goût“, erklärte Gerhard Schröder vor einigen Tagen der französischen Tageszeitung Le Monde. Der Kanzlerkandidat hatte höchstselbst einen Artikel verfaßt bzw. verfassen lassen. Ihm ging es darum, einen beim französischen Publikum weit verbreiteten Verdacht zu zerstreuen: daß er sich nicht als Heizer, sondern als Bremser im Europa-Expreß betätigen wird.

„Goût“ übersetzt man in Schröders Aufsatz am Besten mit „Neigung“. Schröder will „Europäer aus Neigung“ sein und nicht etwa bloß „Europäer aus Notwendigkeit“. Und woher diese Neigung? Die Antwort lautet: „Ich bin Europäer, weil ich Deutscher bin.“ Worin glaubt er das „Europäische“ seines Deutschtums begründet? Folgt man der Argumentation des Le Monde-Artikels, so lautet die Antwort überraschenderweise, daß in der bundesstaatlichen Ordnung Deutschlands die Ordnung des künftigen Europa bereits vorgebildet sei. Wir wissen eben genau, was die Bundesregierung bei uns darf und was die Bundesländer. Und ebendiese Aufteilung der Kompetenzen gilt es zwischen Brüssel und den Staaten der Europäischen Union festzulegen. Die Franzosen, diese hartnäckigen Zentralisten, müssen sich den Föderalismus noch bei uns abgucken, wenn sie fit werden wollen fürs 21. Jahrhundert. Also auch hier das Modell Deutschland. So etwas hört das französische Publikum ungern. Und es schenkt der Botschaft keinen Glauben. Schröder ein europäischer Föderalist? Zieht man die Summe aus Schröders Statements der Vorwahlzeit, so wird zweierlei klar: Der Kandidat sieht erstens im Nationalstaat nach wie vor die Basis, auf der die grundlegenden politischen Entscheidungen gefällt werden müssen. Und er ist zweitens der Meinung, daß es vor allem darum geht, innerhalb der Europäischen Union Deutschlands „nationale Interessen“ durchzusetzen, „brutal“, wenn es sein muß.

Halten wir uns nicht lange bei den Wandlungen auf, die Schröders Haltung zum Euro durchlaufen hat. Vom gegen den Euro gerichteten Lobpreis der D-Mark als „Symbol für den Wiederaufstieg aus den Trümmern des Faschismus“ über die „kränkelnde Frühgeburt“ bis zur Feststellung im Brief an den britischen Schriftsteller Frederik Forsyth, der Euro sei nun mal da, und jetzt gelte es, die Chancen der Währungsunion zu sehen und nicht nur deren Risiken. Daß der Euro nur im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik erfolgreich sein wird, war stets die Meinung aller deutschen Sozialdemokraten, die für ihn eintraten.

Schröders hinhaltender Widerstand speist sich nicht aus diesen Befürchtungen bzw. Forderungen. Der Kanzlerkandidat hielt an der D-Mark fest, weil die Stärke dieser Währung für ihn Ausweis deutscher Wirtschaftsstärke ist. Und diese wiederum macht die Stärke des Nationalstaats aus, innerhalb dessen allein eine effektive Wirtschafts- und Sozialpolitik möglich ist. Schröder legt Wert darauf, hinsichtlich Europas nicht als Visionär zu gelten, sondern als Pragmatiker. Nicht auf dem Feldherrenhügel sieht er seinen Platz, wo es um Strategie geht, sondern in der tagtäglichen Kärrnerarbeit.

Er gebraucht gern die Metapher von der „Mühe der Ebene“, die in Europa auf die „Mühen der Gebirge“ folgen müsse. Das Bild stammt ursprünglich von Brecht. Mit der Mühe des Gebirges meinte Brecht den Sieg der Revolution, mit der Mühe der Ebene den sozialistischen Aufbau. Schröder wiederum meint, daß politisch die Würfel in Europa gefallen sind. Ab jetzt gilt das Primat der Ökonomie. „Wir Europäer kommen in eine Phase, in der wir viel stärker ökonomisch denken müssen. Politik ist mehr als die Anpassung an ökonomische Zwänge. Aber fast alle Entscheidungen, die anstehen, betreffen die Klärung ökonomischer Zusammenhänge“, sagte Schröder in einem Zeit-Interview. Und weiter: „Europapolitik wird vor allem Wirtschafts- und Finanzpolitik sein müssen.“ Das klingt realistisch (und bescheiden), stimmt aber nicht.

Am 17. Juni dieses Jahres hat Schröder in Warschau eine bemerkenswerte Rede gehalten. In ihr stellte er fest, daß wir Polen zu Dank verpflichtet seien, weil es dem Freiheitskampf im östlichen Europa entscheidende Impulse gegeben habe. Aber die Aufnahme Polens, Ungarns und Tschechiens in die Europäische Union erfolge nicht nur aus Dankbarkeit, sondern weil Stabilität und Sicherheit dieser Länder auch und vor allem im Interesse Deutschlands seien. Gut gesprochen, aber fast gleichzeitig heißt es in einem Brief an den polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski: „Natürlich müssen wir über die Einzelheiten verhandeln. Es darf zum Beispiel nicht dazu kommen, daß polnische, tschechische oder ungarische Arbeitnehmer in Deutschland die Tarife unterlaufen, welche hier die Arbeitnehmer mit den Arbeitgebern ausgehandelt haben.“

Nicht die (berechtigte) Kritik am Lohn- und Sozialdumping in der EU ist an dieser Briefstelle bemerkenswert, sondern daß hier Vorbedingungen festgeschrieben werden. Daß indirekt die Freizügigkeit der ostmitteleuropäischen Arbeitskräfte auf eine endlos lange Bank geschoben wird. In der Feiertagsphrase wird die Tür zu Europa weit geöffnet, im europäischen Alltagsgeschäft, dem Schröder sich ja vor allem widmen will, wird sie wieder zugeschlagen. Die Integration der östlichen Länder in die EU wird teuer werden, sehr teuer. Mit der „Klärung ökonomischer Zusammenhänge“ ist es nicht getan. Länder wie Polen aufzunehmen, ist ein politischer Entscheid, der nicht in der „Ebene“, sondern im „Gebirge“ getroffen werden wird. Aber in dieser zugigen Gegend will Schröder sich ja nicht aufhalten.

Die „Osterweiterung“ der EU wirft ferner die Frage auf, welchen Platz eigentlich die kleinen Nationen in Europa haben sollen. Schröder spricht gern von der notwendigen Demokratisierung der Europäischen Union. Aber dazu gehört nicht nur, nicht mal in erster Linie, die Erweiterung der Kompetenzen des europäischen Parlaments. Es geht um Anerkennung der spezifischen Leistungen der kleinen Nationen für ein demokratisches Europa, zum Beispiel darum, ihren Kampf um Menschenrechte weiterzuentwickeln zu einer europäischen Grundrechtscharta. Statt Würdigung, statt Rücksicht spricht Schröder staatsmännisch von der „Achse Bonn-Paris“, die zum „Dreieck Paris-Berlin-London“ ausgeweitet werden müsse.

Man mag ja Schröders Anhänglichkeit an die hannoveranisch- britische Tradition anerkennen, für Politiker in Warschau, in Prag (und auch in Den Haag) schmeckt dieses Gerede von Achsen und Dreiecken nach Großmachtschauvinismus.

In der erwähnten Warschauer Rede faßt Schröder die außenpolitischen Kerninteressen der Bundesrepublik zusammen: „Integration und Kooperation in Europa, transatlantische Partnerschaft, Mitgestaltung der Rahmenbedingungen einer sich globalisierenden Wirtschaft, Förderung von Menschenrechten und nachhaltiger Entwicklung, die Stärkung internationaler Organisationen.“ Kein übler Katalog, denn in ihm wird zur Kenntnis genommen, wie weit sich Außenpolitik von ihren klassischen Begrenzung auf die Wahrnehmung „nationaler Interessen“ entfernt, wie weit sie sich „globalisiert“ hat. Aber auch hier der Gegensatz zwischen allgemeiner Proklamation und der Haltung zu konkreten Problemen.

In welcher Weise soll beispielsweise Rußland „partnerschaftlich“ einbezogen, in welcher Weise seine demokratischen Institutionen und seine Ökonomie gefestigt, wie eine drohende Antagonisierung gegenüber „dem Westen“ verhindert werden? Außer Leerformeln nichts zu beißen. Stärkung internationaler Organisationen, vor allem der UNO und der OSZE, immerhin verankert in Resolutionen des letzten SPD-Parteitags? No comment. Vorgestern wurde Schröder in der Sendung „Was nun, Herr Schröder?“ befragt, ob er für eine bewaffnete Intervention im Kosovo eintrete. Dazu sei ein Beschluß des UNO- Sicherheitsrats erforderlich, war seine Antwort. Allerdings, wenn der nicht erreicht werde, sei er als Bundeskanzler auch für andere Lösungen gesprächsbereit. Hoch der Pragmatismus des Kanzlerkandidaten!

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