„Bin ich nun ein Kohl-Kind?“

Kohl wählen die wenigsten, aber fast alle wünschen sich von Schröder Kohlsche Qualitäten. Sechs Tübinger Gymnasiasten über den Wahlkampf, die Politik und das erste Mal  ■ Von Jens Rübsam

Wahlkampf in Tübingen: Vom Rathausfenster aus versprach Oskar Lafontaine, die jung-alternative Klientel fest im Blick, den Ausstieg aus der Atomenergie und ein 100.000-Dächer-Programm für Solarenergie. Zwei Wochen später pries Wolfgang Schäuble auf dem Marktplatz die dynamische Politik der Regierungskoalition. Die SPD-Wahlkreiskandidatin Herta Däubler-Gmelin plauschte im World Wide Web mit jungen Leuten: „Hallo, Herta“. Und der CDU-Kandidat Claus-Peter Grotz fläzte sich im Jugendhaus vor 30 Kids auf einen Barhocker: „Ich bin mit 15 in die Junge Union eingetreten.“ Die Tübinger Jungwähler sind umworben.

Anne: „Ich finde es traurig, wie der Wahlkampf läuft. Schäuble hat mich ziemlich enttäuscht. Der hat nur gesagt: Die SPD macht das und das schlecht, und die CDU hat alles gut gemacht. Ich hätte nie gedacht, daß der sich für so etwas Niveauloses hergibt.“

Simon: „Das ist doch bei der SPD dasselbe. Da kommt immer nur: 16 Jahre Kohl sind genug. Ich fand gut, wie Schäuble den Leuten, die schon im Schwanken waren, Mut gemacht hat, doch CDU zu wählen. Das hatte so einen Gemeinschaftseffekt. Man hat gesehen, aha, da klatschen Leute neben dir.“

Was Wahlforscher dieser Tage vermelden, ist nicht wirklich überraschend. 38 Prozent der Jugendlichen in Deutschland fühlen sich keiner Partei nahe. Von den insgesamt 3,3 Millionen Erstwählern wollen 41 Prozent SPD wählen, 32 CDU, 14 grün, vier PDS und FDP, zwei Prozent rechte Parteien. 57 Prozent der jungen Leute wünschen sich Gerhard Schröder als Bundeskanzler.

Helmut Kohls Parteifreund, Bildungsminister Jürgen Rüttgers, antwortete kürzlich Kölner Erstwählern auf die Frage „Warum mußte Ihre Regierung den Eurofighter anschaffen?“ folgendes: „Unsere Maschinen sind über 20 Jahre alt, das ist wie mit einem alten VW. Irgendwann muß Ersatz her.“ Helmut Kohl regiert die Bundesrepublik seit 1982.

Patrick: „Ich habe nur Kohl erlebt. Aber bin ich deswegen ein Kohl-Kind? Okay, er hat die Politik nicht schlecht gemacht. Doch jetzt ist er ausgebrannt. Er zählt nur noch das auf, was er in der Vergangenheit geleistet hat.“

Miriam: „Für mich macht Kohl einen selbstgefälligen Eindruck. Wenn Schäuble kandidiert hätte, hätte ich mir überlegt, CDU zu wählen.“

Christof: „Ich bin auch nicht so für Kohl, in den letzten sechs, sieben Jahren ist einfach recht wenig gegangen.“

Simon: „Daß durch die Wiedervereinigung die Arbeitslosenzahlen so hoch sind, kann man Kohl nicht anlasten. Ich denke sowieso, daß er in zwei Jahren aufhört.“

Die knappsten Worte des Kanzlers dazu waren neulich in der Zeit zu lesen: „Ich kandidiere für diese Legislaturperiode. Punkt. Aus. Feierabend.“

Patrick: „Grundwerte wie Ehrlichkeit findet man bei Politikern nicht mehr. Die Grünen haben mit ihrer Ökosteuer die Wahrheit gesagt und die Quittung gekriegt.“

Simon: „Ich weiß nicht, ob es honoriert wird, die Wahrheit zu sagen. Das ist traurig, aber wahr.“

Anne: „Ich glaube, die Wähler werden für zu dumm gehalten. Wenn eine Partei ehrlich Vor- und Nachteile einer Sache erklären würde, würde das doch Anerkennung finden.“

Im Tübinger Sozialamt zeigt sich eine Sachbearbeiterin von der Frage überrascht. Jugendarbeitslosigkeit? „Mit dem Begriff können wir hier nichts anfangen.“ Im „Landkreis mit der höchsten Lebensqualität“ werden die Zahlen Monat für Monat mit ruhigem Gemüt gelesen. 132 arbeitslose Jugendliche unter 20 Jahren in der Stadt; in der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren waren es im August 501. Geschätzt wird, daß 530.000 Jugendliche in Deutschland keinen Job haben. Die Grünen fordern: Arbeitgeber, die nicht ausreichend ausbilden, sollen durch eine Umlage zur Finanzierung von Lehrstellen herangezogen werden. Die SPD erwägt einen Leistungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben. Laut Shell-Jugendstudie 1997 sieht jeder zweite Jugendliche in der hohen Arbeitslosigkeit ein Riesenproblem.

Anne: „Ich habe gerade ein Praktikum im Botanischen Garten hinter mir und gemerkt, daß ich doch lieber was mit dem Kopf machen will, also studieren.“

Miriam: „Ich hatte einen Ferienjob bei Daimler-Benz: mit Waschbenzin Autos putzen, Lack abreiben. Ich habe gut verdient, in vier Wochen 3.600 Mark plus Schichtzulage. Ich werde vielleicht was mit Tourismus machen. Ich denke, man muß heute flexibel sein.“

Simon: „Ich will erst einmal zwei Monate ins Ausland gehen, vielleicht nach Israel. Dann Zividienst, dann wahrscheinlich Verwaltungsswissenschaft studieren. Und wenn es klappt, im Auswärtigen Amt anfangen. Wenn nicht? Irgendwas bekommt man immer.“

Christof: „Nach dem Abi würde ich gern einen Abenteuerurlaub machen. Später will ich selbständig werden, als Unternehmensberater oder so.“

Patrick: „Ich will studieren: Mathe, Informatik oder Chemie. Bei Chemie überlegt man natürlich, Chemiker stehen auf der Straße.“

In der Lokalzeitung Schwäbisches Tagblatt ist zu lesen: „Mehr als 4.000 Studenten stehen derzeit vor der Frage, ob sie die Studiengebühr von 1.000 Mark begleichen sollen.“ Die Universität darf bei jenen abkassieren, die die Regelstudienzeit um mehr als vier Semester überziehen. 550 StudentInnen haben Widerspruch eingelegt.

Anne: „Wenn studieren zur Nebensache wird, finde ich es okay, daß man zahlen muß.“

Patrick: „Bei einer späteren Bewerbung wird doch der Chef sehen: Aha, der hat zehn Semester studiert, der hat die Zeit vertrödelt. Man muß sich heute dem gesellschaftlichen Druck beugen.“

Christof: „Man hat doch auch viele Vorteile von der Gesellschaft: tolle Infrastruktur, Straßen, Fernseher. Da muß man halt auch was für tun.“

Im Büro der Tübinger SPD klagt ein Mitarbeiter: „Von unseren 520 Mitgliedern sind nur 44 jünger als 24.“ Daniel Binanzer vom „Jungen Wahlkampfteam“ der SPD winkt dankend ab, wenn man ihn fragt, ob er für die Partei auch ein Mandat wahrnehmen würde. „Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich habe meinen eigenen Kopf.“ Nur jedes 15. SPD- Mitglied ist unter 30.

Auch die Mitgliederzahlen der Jungen Union stolperten seit 1990 um 30 Prozent in den Keller. Vergangene Woche flehten die Jugendverbände der Parteien die Jungwähler an: Nutzt eure Stimme! Setzt euch für eure Belange ein! Auf die Formulierung, keine rechte Partei zu wählen, konnte sich der Polit-Nachwuchs nicht einigen. Die Junge Union hätte auch auf linksextremen Parteien bestanden.

Die Landesregierung in Baden- Württemberg hat Jugendgemeinderäte eingerichtet und spendet den Aktiven regelmäßig Lob. Doch die fühlen sich häufig nur als Aushängeschild von Kommunalpolitikern, die, so der Landesjugendring, ihre Jugendfreundlichkeit demonstrieren wollten. 65 Prozent der Jugendlichen im Ländle, so eine Umfrage, stehen den Gremien kritisch gegenüber. In Tübingen soll im nächsten Frühjahr ein Jugendgemeinderat seine Arbeit aufnehmen.

Simon: „Jugendthemen finde ich nicht unbedingt das Wichtigste. In so einem Jugendgemeinderat geht es doch eher darum, ob eine Halfpipe angeschafft wird. Dafür würde ich mich nie einsetzen.“

Anne: „Ich hatte mal dran gedacht, in eine Partei einzutreten. Aber ich kann mich mit keiner so richtig identifizieren.“

Miriam: „Wenn ich mich engagiere, dann in meiner Gemeinde. Da gibt es eine Freie Wählergruppe, da macht mein Vater mit.“

Patrick: „Meine Mutter ist im Ortschaftsbeirat. Ich engagiere mich lieber am Computer.“

In Frankfurt versenkten Jugendliche am vergangenen Wochenende ein Schiff im Main, die „MS Regierung“. 28.000 junge Leute standen Spalier und jubelten: „Wer, wenn nicht wir – wann, wenn nicht jetzt!“ Waigel und Kohl gingen über Bord. Die Kids fordern: mehr Ausbildung und Arbeitsplätze, gerechtere Verteilung von Reichtum, bessere Bildungschancen. Themen wie in den achtziger Jahren – Umwelt, Dritte Welt, Abrüstung – sind für die meisten von ihnen nicht mehr der Rede wert.

Im Neckar, sagt ein Tübinger Gemeinschaftskundelehrer, könne man doch heute schon wieder baden. Und die Wälder rund um Tübingen seien auch noch nicht gestorben, wie es Umweltschützer prophezeit hätten. Die Startbahn West kennen die Jugendlichen, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen. Nachrichten aus der Dritten Welt hören sie nur noch in der Tagesschau. Und auf Viva läuft derweil ein Spot: „Wir sind die Generation, die etwas ändern muß“, weil Viva-Geschäftsführer Gorny sich „seiner Verantwortung als Repräsentant der Jugendlichen bewußt“ ist.

Sebastian: „Obwohl ich Grün wähle, bin ich gegen einen Ausstieg aus der Atomenergie.“

Christof: „Ich habe vor den Ferien eine Führung in einem Atomkraftwerk mitgemacht: Ich habe keine großen Bedenken mehr gegen Atomenergie.“

Anne: „Mir macht die Atomkraft angst. Ich habe Schiß, daß so ein Ding mal hochgeht.“

Christof: „Die alten Grünen, das sind linke Spinner, vom Aussehen her wenigstens.“

Miriam: „Die wollen die Umwelt schützen um jeden Preis und schauen nicht auf die Marktwirtschaft.“

Sebastian: „Mir fällt im Moment nichts ein, wofür ich auf die Straße gehen würde.“

Blättert man dieser Tage in Schülerzeitungen, schauen einen die wahren Probleme der Jugend an: „Miss Fitness Berlin 1998 an unsere Schule?“ „Der große Psychotest – wie cool bist du wirklich?“ „Ein Herz für Blümchen – Deutschlands jüngste Popqueen“. Der schönste Satz findet sich im Kaktus, der Schülerzeitung des Lothar-Meyer-Gymnasiums Varel. „Mein ganzes Leben ist geregelt, was soll ich mir da Gedanken machen?“ meint Stefanie.

80 Prozent der 14- bis 18jährigen machen sich Sorgen um die Zukunft, wollen Wahlforscher dieser Tage wieder einmal herausgefunden haben.

Miriam: „Ich wünsche mir für das Jahr 2000, daß noch immer Frieden ist. Daß die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht.“

Sebastian: „Daß die Stimmung in der Bevölkerung optimistischer wird. Daß sich die Leute wieder mehr freuen.“

Patrick: „Daß das Wirtschaftswachstum gleich bleibt.“

Christof: „Daß es weiterhin eine gewisse Sicherheit gibt, wenn man sich selbständig machen möchte.“