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■ Die türkische Justiz kriminalisiert gemäßigten IslamistenMärtyrer wider Willen

Das Urteil gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Erdogan ist ein klassischer Fall politischer Justiz. Erdogan wird nun sein Amt verlieren. Dies ist der unverblümte Versuch, einen der populärsten Politiker der islamischen Bewegung aus dem Verkehr zu ziehen. Es ist darüber hinaus eine Kampfansage an die neue islamische Tugendpartei (Fazilet), die als Nachfolgerin der im letzten Jahr verbotenen islamischen Wohlfahrtspartei gerade dabei ist, sich zu formieren.

Zur Zeit wird in der Türkei heftig diskutiert, ob die für April 1999 beschlossenen Neuwahlen wieder verschoben werden sollen. Ein Grund dafür ist, daß nach den letzten Umfragen die Fazilet wieder stärkste Partei werden könnte, eine Vorstellung, die den türkischen Militärs ganz und gar nicht in den Kram paßt. Allerdings darf man stark bezweifeln, daß das Phänomen des politischen Islam in der Türkei durch schlichte Verbote gelöst werden kann. Gerade die Kriminalisierung eines Mannes wie Tayyip Erdogan könnte sich als schwerer Fehler erweisen. Die Fazilet ist noch weniger als die Vorgängerin, die Wohlfahrtspartei, homogen. Sie hat neben den islamischen Traditionalisten, zu denen auch der frühere Islamistenführer Erbakan gehört, einen modernistischen Flügel, dem vorschwebt, aus der Tugendpartei eine politische Formation zu entwickeln, die in der türkischen Gesellschaft eine den christdemokratischen Parteien in Europa vergleichbare Rolle spielen könnte. Eine moderne demokratische Partei auf dem Boden islamischer Grundsätze. Erdogan gehört zu diesem Flügel.

In Istanbul hat er darüber hinaus gezeigt, daß er dazu in der Lage ist, eine Riesenmetropole weitaus effizienter zu verwalten, als seine Vorgänger dies taten. Das jetzt bestätigte Urteil verbietet ihm lebenslang die Wahrnehmung eines öffentliches Amtes. Natürlich schwächt das erst einmal die islamistische Partei, die einen ihrer profiliertesten Leute verliert. Den größeren Verlust erleidet jedoch die türkische Gesellschaft insgesamt.

Zu einer Erneuerung der politischen Kultur gehört ein gelassenerer Umgang mit dem politischen Islam, solange dieser bereit ist, die Grundlagen der Republik zu akzeptieren. Dazu braucht man Leute wie Erdogan. Die Politik mit der Brechstange, die reine Kriminalisierung eines gesellschaftlichen Massenphänomens, birgt letztlich nur die Gefahr einer Radikalisierung der Islamisten. So wird Erdogan zum Märtyrer wider Willen. Jürgen Gottschlich

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