: Der Osten in einem Stück Bonbonpapier
Ein Leben ohne Helmut Kohl – eine taz-Serie (Teil 5). Die Ostdeutschen schicken ihren Kanzler der Einheit in die Wüste. Doch in der Stunde des Abschieds merken sie, was sie an ihm hatten. Schröder würde den Osten kühl abwickeln ■ Von Jens König
Der Osten wird gerade zur Chefsache. Zur Chefsache aller. Kohl, Schröder, Schäuble, Lafontaine, Fischer, Westerwelle, Gerhardt – keiner läßt Ostdeutschland in der letzten Wahlkampfwoche aus. Und alle sind sie höflich, nett und zuvorkommend. „Ihr im Osten habt viel mitgemacht“, sagt Gerhard Schröder. Ja, ja, denken die Leute und wissen angesichts solcher Reden wieder ganz genau, was sie in den letzten Jahren mitgemacht haben.
„Wenn Schröder sagt, er wolle den Osten jetzt zur Chefsache machen“, höhnt Helmut Kohl, „dann kann ich nur sagen: Sie sind spät dran, mein Freund.“ Spät dran, kann man da nur sagen, sind viele in diesen Tagen. Aber nicht alle.
Die Zeit hat den Osten schon vor ein paar Jahren zur Chefsache erklärt. In der kleinen Rubrik „Östliches“, zu finden auf der Länderspiegel-Seite im hinteren Teil des Blattes, wird Woche für Woche in sechs, sieben kurzen Zitaten Ostdeutschland in seiner ganzen Vielfalt ausgebreitet. Die Leser der Zeit sollen schließlich wissen, was man im Osten so denkt. „Wir müssen die Tiere impfen“, wird Sachsens Landwirtschaftsminister Rolf Jähnichen zitiert, „so wie es in der DDR üblich war. Bis zur Wende galt die Schweinepest hierzulande als ausgerottet. Erst danach ist die Krankheit wieder aufgetreten.“ Der Dortmunder Fußballprofi Steffen Freund darf sagen, daß er einfach stolz ist, für Deutschland zu spielen: „Es war schon toll, in der DDR-Jugendauswahl zu stehen. Aber ein gesamtdeutsches Team, das ist noch viel, viel mehr.“ Der Dirigent Kurt Masur ist mit einer kühnen These in die Rubrik eingegangen: „Bert Brecht, obschon Kommunist, bleibt einer der größten Dramatiker unseres Jahrhunderts.“ Ja, ja, so ist er, unser Osten.
Die kleine Zeit-Rubrik sagt mehr über das Verhalten des Westens gegenüber dem Osten als alle große Politik. Die Zeiten, in denen der Generalverdacht bestand, alle Ostler seien faul und demokratisch unterentwickelt, sind vorbei. Heute dominieren gute Absichten und ein freundliches Interesse am Osten. Aber eine weitverbreitete Ahnungslosigkeit läßt dieses Interesse hilflos wirken. Das erweckt im Osten den Eindruck, er werde in seiner Eigenständigkeit heute viel mehr toleriert als noch vor vier, fünf Jahren – aber das nur deswegen, weil er dem Westen egal ist.
Man darf den Hamburger Blattmachern der Zeit unterstellen, daß sie ihre Rubrik „Östliches“ in bester Absicht eingerichtet haben. Sie liest sich aber wie ein Ratgeber über australische Ureinwohner.
Und manchmal wird die Suche des Westens im Osten ja tatsächlich von einer merkwürdigen Sehnsucht nach etwas Urwüchsigem bestimmt. Nach einer Ursprünglichkeit, die es im Westen schon lange nicht mehr gibt, nach Menschen, die sich nicht den Moden unterwerfen, die noch nicht kulturindustriell genormt sind. Die Öffentlichkeit nennt solche Leute dann gerne „ostdeutsche Stimmen“. Sie zeichnen sich zuallererst dadurch aus, daß sie einfach anders sind als – ja, als was? Als „westdeutsche Stimmen“? Die gibt es nicht; nur wer für sprachlos gehalten wird, braucht auch eine eigene Stimme. Die „ostdeutschen Stimmen“ müssen authentisch sein, sie müssen das Sprachrohr einer Generation sein oder auch nur ein bestimmtes Lebensgefühl wiedergeben. Sie müssen vor allem so sein, wie der Westen denkt, daß der Osten ist.
Der Dresdner Schriftsteller Ingo Schulze ist so eine „Stimme des Ostens“. Der Erfolg seines jüngsten Buches „Simple Storys“ – 85.000 verkaufte Exemplare, davon mehr im Westen als im Osten – ist nicht nur mit dessen literarischer Qualität zu erklären, sondern vor allem mit der Tatsache, daß der Literaturbetrieb glaubt, in Schulze den ostdeutschen Erzähler der jüngeren Generation entdeckt zu haben. Schulze wird vom (westdeutschen) Feuilleton nicht nur wegen seines Talents gefeiert, sondern auch wegen seiner Fremdheit, seiner Andersartigkeit, die darin besteht, Ostdeutscher zu sein.
Exemplarisch dafür steht ein Porträt, das der Literaturkritiker Gustav Seibt vor ein paar Wochen in der Berliner Zeitung über Ingo Schulze geschrieben hat. Seibt läuft mit Schulze durch die alte thüringische Residenzstadt Altenburg, die Stadt, in der die „Simplen Storys“ spielen, und stellt am Ende des Spaziergangs über den Schriftsteller fest: „Es gibt in ihm wirklich einen unerklärlichen Rest von Fremdheit, der vor allem in unscheinbaren Dingen und Wahrnehmungen nistet, in der Kälte des glatten Leders einer Sitzgarnitur, in der Holzmaserung eines Tisches, die eine unenträtselbare Botschaft andeutet. Nach einem Gang mit Schulze durch Altenburg und den vielen Geschichten, die man dabei gehört hat, sucht man nach solchen geheimen Zeichen. Zum Kaffee im Garten gibt es ,Baci Perugina‘ (Küsse von Perugina), italienische Pralinen, deren silbriges, dunkelblau besterntes Einwickelpapier innen immer einen Spruch klassischer Weisheit enthält... Ingo Schulze und seine Freundin wickeln eine Praline aus und finden, daß der Spruch paßt. Man wagt nicht zu fragen, wie der Spruch heißt.“ Wo Seibt versucht, den Ostler Schulze als ein Wesen aus einer anderen, längst vergangenen Zeit zu beschreiben und zu enträtseln, da macht er aus ihm nur ein neues Rätsel. Und was für eins: ein viel größeres, als es jemals war. Geheime Zeichen in der Holzmaserung des Tisches und in einem einfachen Stück Bonbonpapier!
Für Helmut Kohl war der Osten nie ein Rätsel. Als er kam, war für ihn bereits alles gelaufen.
Am 18. Dezember 1989 brach Kohl zu seinem Besuch mit dem neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow nach Dresden auf. Es war die erste Begegnung der beiden deutschen Regierungschefs nach der Wende, und die Hoffnungen, die alle Seiten in den Bundeskanzler setzten, waren groß. Bei der Reise in das unbekannte Land stand Kohl unter starker Anspannung. Er war vorher erst zweimal in der DDR gewesen, in Dresden und Leipzig, wo seine Frau aufgewachsen war. Kohls Erregung legte sich in dem Moment, in dem er in Dresden landete. Das Flughafengebäude und die umliegenden Straßen waren mit Menschen bevölkert. Der Kanzler wurde in einem Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen empfangen. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand sein Gastgeber Hans Modrow mit versteinerter Miene. Diese Kombination – der entgeisterte Modrow, der plötzlich merkte, das sein Volk sich von ihm abwandte, und die jubelnden Massen – waren für Helmut Kohl wie eine Offenbarung. Schlagartig sei ihm in dem Moment bewußt geworden, notierte er später in seinen Erinnerungen, daß „die Einheit kommt“.
Er hielt im Heruntersteigen von der Bordtreppe inne, drehte sich zu seinem Kanzleramtsminister Rudolf Seiters um und sagte: „Rudi, die Sache ist gelaufen.“
Von diesem Gespür für die historische Situation profitiert Kohl im Osten bis heute. Er war für viele Ostdeutsche von Anfang an jemand, der mit guten Absichten und mit freundlichem Interesse in den Osten reiste, so wie andere erst viel später. Kohl kommt wie viele Ostdeutsche aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, und das schuf eine Art Seelenverwandschaft. „Die Menschen im Osten waren genauso fleißig wie bei mir zu Hause in Ludwigshafen“, sagte der Kanzler bei jeder sich bietenden Gelegenheit, „aber ein verbrecherisches Regime hat sie betrogen.“ Wenn Kohl redete, verstanden ihn die Leute, nicht zuletzt deswegen, weil er ihnen quasi im Vorübergehen eine Generalentschuldigung für ihre Feigheit und ihren Opportunismus in der DDR aussprach.
Diese Seelenverwandtschaft besteht bis heute fort, auch wenn die Ostdeutschen den Kanzler diesmal in die Wüste schicken werden. Sie geben ihm die Quittung für seine falschen Versprechen und seine verfehlte Politik; Kohl ist die Personifizierung ihrer enttäuschten Hoffnungen. Aber im Moment seines Abschieds versagen ihm nicht mal seine härtesten Gegner, wie Gregor Gysi von der PDS, die Anerkennung, im Umgang mit den Ostdeutschen oft den richtigen Ton getroffen zu haben.
Ein neuer Fall von Nostalgie? Fällt den Ostdeutschen der Abschied von ihrem Kanzler der Einheit etwa schwer? Das nun nicht gerade, aber mit Kohl wußten die Leute wenigstens, woran sie waren. Nicht, daß sie ihn behalten wollten, aber in die Hoffnung auf einen Wechsel, auf daß alles besser wird, mischt sich auch Unsicherheit. Natürlich kommt ein Machertyp wie Gerhard Schröder ihrer Sehnsucht nach Führung entgegen, ein moderner Volksheld ist genau das, wonach sie suchen. Aber was, wenn dem lächelnden Pragmatiker Schröder der Osten doch egal ist, Chefsache hin, Chefsache her? Sagen nicht alle, daß er vom Osten keine Ahnung hat?
Schröder versteht wirklich nichts vom Osten. Er wird die Ost- West-Probleme kühl abwickeln, hier eine Fördermaßnahme optimieren, da den Genossen im Osten freie Hand im Umgang mit der PDS lassen. Vielleicht ist dieser Pragmatismus das beste, was dem Osten passieren kann. So wird er auf sich selbst zurückgeworfen. Der Osten könnte sich endlich klar darüber werden, daß es den Osten, der nur Opfer ist, Opfer von Kohl, Opfer der Treuhand, Opfer seiner Vergangenheit, Opfer des Westens, schon lange nicht mehr gibt. Der Osten ist differenziert, es gibt Sieger und Verlierer gleichermaßen, Reiche und Arme, Millionäre und Arbeitslose, Demokraten und Rechtsradikale, einige Genies, aber auch ausreichend Idioten. Wenn die Ostdeutschen sich selbst nichts mehr vormachen, machen sie sich vielleicht auch unabhängig von großen Versprechen.
Frage eines Reporters an den SPD-Kanzlerkandidaten: Fahren Sie in den Osten, um neue Freunde zu finden? Antwort: Nein, um alte Freunde zu besuchen.
Schröder lügt wie gedruckt, aber es könnte sein, daß es keinen interessiert.
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