: Schröder gehabt
■ taz-Kritiker mit Erst- und Zweitstimme an der Fernbedienung - Schließlich wird erst durch Fernsehen ein Wahlabend doch richtig schön
Die Hochrechner
Diese Wahl war ihre Wahl. Und sie wußten es. „Schauen wir uns das ruhig mal an“, nickte Dieter Zimmer entspannt. „Da haben wir eine Grafik vorbereitet...“, bemerkte Ulrich Deppendorf souverän. Und wir starrten auf ihre Gewinn-und- Verlust-Grafiken wie der Säufer auf den Schnaps.
Wie beim Alkoholismus schlich sich auch die Abhängigkeit von ihnen mit vielen fröhlichen Abenden ein. Was haben wir früher gelacht über Deppendorfs hilfloses Gestammel, wenn sich die entscheidende Grafik wieder einmal partout nicht aufbauen wollte. Wie absurd erschienen uns die wirren Schaubilder zur Wählerwanderung. Und nun? Schluß mit lustig.
Der Wahlkampf kommt nun schon zu seinem Höhepunkt, wenn Deppendorf und Zimmer ihre Tresen um 17.45 Uhr öffnen. Dieter, wie ist das mit dem Briefwahleffekt? Keine Sorge, die hat die Forschungsgruppe Wahlen längst mit hochgerechnet. Was war mit den Unentschlossenen, die sich erst um 17.59 Uhr an die Wahlurnen trauten? Infratest hat sie für die ARD interviewt. Nagelkauend hängen wir vor den Bildschirmen und lesen dem coolen Ulli die Wende von den Lippen ab.
Sie sind die Masters of the Universe. Ob Lafontaine sprechen darf oder nicht, entscheidet Ulrich Deppendorf. Hochrechnung geht vor Danksagung. Ob die illustre Runde am ZDF-Pult minutenlang starr in die Luft schweigt, bestimmt Dieter Zimmer. Wer die Zahlen hat, hat die Macht.
Spät die Bonner Runde: Die Herren sprechen lange, sagen aber nicht viel. Außer, daß man erst auf die endgültigen Zahlen warten muß. Jesus! Klaudia Brunst
Kontrastprogramm
So weit kommt's noch: Birgit Schrowange berichtet aus der CDU-Zentrale, Ingolf Lück liefert die Hochrechnungen, Harald Schmidt kommentiert. Die Tendenz ist bereits erkennbar. Bei RTL moderierte am Nachmittag Birgit Schrowange im Verein mit Hans Meiser abgegriffene Streiche mit Wahlbezug, ausgeführt im Geiste Wigald Bonings, der parallel bei Viva Posen wie Prosa des Politpersonals mit Biß parodierte.
Als Politikerverdrossener mag man diese Entwicklung nur halbherzig geißeln. Elefantenrunden, liturgische Rituale und standardisierte Floskeln sind kaum informativer. Dann lieber zur Abwechslung die fünfstündige Wahlparty bei MTV, moderiert vom notorischen Klassenclown Christian Ulmen und Popsänger Xavier Naidoo. Die seriöse Berichterstattung oblag Steven Gätjen, der zwar weiß, wie es sich mit Erst- und Zweitstimme verhält, aber an der Vermittlung dieses Wissens scheiterte. Freilich gerieten an diesem Abend selbst gestandene Kollegen wie Volker Herres ins Stammeln und Nesteln. Harald Keller
Die neuen Mittel
„Und öhmm“, beschließt Schröder die erste Analyse seines Triumphes. 20 Minuten vor 18 Uhr hat er, wie auch Kohl, telefonisch die diesmal recht zielnahe Prognose vorverraten bekommen. Vorsprung, um aus meist vier, fünf vorbereiteten Erklärungen die passende zu wählen und auswendig zu lernen. Aber im Triumph entfahren ihm doch drollige Amtlichkeiten wie die von der „zureichenden“ Mehrheit und der „neuen Mitte, die von uns erobert worden ist“.
Augenfällig: Schröder ist Politik von unten; ARD-Mann Rolf-Dieter Krause ist einen Kopf größer als Schröder und einen schneller als die Konkurrenz: Er weiß, daß er es mit Vorformuliertem zu tun bekommt, und grätscht beherzt dazwischen. Auch Kollege Martin Schulze bei der Union liefert früh und ohne Schleim Statements von Kanther, Vogel, Teufel.
Dabei bewahrt an solchem Abend Unschuld, wer nicht mehr tut, fragt und sendet als „the winner takes it all“: Als sich der geschlagene Kohl gegen 19 Uhr der Presse stellt, scheint Kampagnenregisseur Müntefering („so ein Tag, so wunderföhn wie heute“) auf den Monitor geschielt zu haben: Exakt jetzt schickt er sein Mündel los, die ARD schneidet um, und Schröder schlägt Kohl. Ohne die toll besetzte, aber so früh doch störende Gesprächsrunde mit Jepsen, Schulte, Henkel – gäbe es am Auftritt der ARD diesmal gar nichts zu nörgeln.
Bei RTL durchmißt Peter Kloeppel behenden Schritts eine virtuelle Tortengrafik; mangels Topgästen interviewt er gelegentlich seinen Bonner Korrespondenten. Das ist ausreichend, nicht aufregend. Auch Sat.1 – mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund zu kräftig positioniert – greift auf den Politologen im Studio zurück. Im ZDF bewirten Hauser & Kienzle die Christiansen-Gäste von letzter Woche. Bis zu n-tv sind inzwischen die Rivalen Rühe und Schäuble durchgereicht. Reporter Fallois hakt stur nach, woran es nur gelegen habe. Auf Pro 7 gestaltet Christiane Gerboth einen Take mit der Nachbereitung, daß man „soeben Schröder gehabt hat“. Gesundheit. Ich gebe ab zur Bonner Runde. Friedrich Küppersbusch
Letzte Runde in Bonn
Die SPD, so Klaus Bresser, habe im letzten Moment entschieden, Oskar Lafontaine zu entsenden. Also Oskar. Oder war Schröder vielleicht doch mit Harald Schmidt, der Minuten zuvor Sat.1 versetzt hatte (angeblich krank, höhö), einen heben, um ihm den Job des Wirtschaftsministers anzubieten? Der Kanzler in spe hätte die Plauderei vermutlich auch nicht sonderlich belebt. Denn wo einst an Wahlabenden überschwengliche Sieger und gefrustete Verlierer regelmäßig die Contenance verloren und einander Saures gaben, tauschen sie heute nur jene Artigkeiten aus, die sie in den zwei Stunden zuvor schon in unzählige Mikrofone gesäuselt haben. Da mag man sich wehmütig an jene Jahre mit Brandt und Kohl und Strauß erinnern. Auch auf einen Eklat, wie nach der Niedersachsen-Wahl, als die Generalsekretäre von FDP und CSU wutschnaubend flüchteten, wartete man diesmal vergebens. Lediglich als Lafontaine und FDP-Chef Gerhardt in Sachen Blockparteien mal kurz aneinandergerieten („Sie sind jetzt mal ruhig, Herr Gerhardt!“), kam kurz Stimmung auf. Kohl lächelte nur buddhagleich vor sich hin, und ein grinsender Jürgen Trittin belegte Regierungsfähigkeit durch comedyreife Nullsätze und ließ sich, logo, auch nicht aus der Reserve locken, als ARD- Mann Hartmann von der Tann ihm schwerst metamäßig kam: „Sie haben offenbar viele „Bonner Runden“ gesehen...“. Wo's nun ohnehin die letzte „Bonner Runde“ war, sollte man das Kränzchen schlicht und ergreifend dichtmachen und als Stück TV-Geschichte liebhaben. Eine „Berliner Runde“ muß nicht sein. Reinhard Lüke
Emotionen
Als die Bonner Runde die Krawatten zurechtrückte, gab sich die neue Mitte, die gerade eben den Wechsel geschafft hatte, also unsereiner, schon wieder privaten Abschweifungen hin. B. referierte über ein Kinderprojekt, während A. ausgiebig nach ihren Reiseerlebnissen durch Südafrika befragt wurde. Da drangen die Kabbeleien zwischen Lafontaine und Waigel nur leise ans Ohr. Anzug mit Weste, aber ohne Schlips sieht irgendwie blöd aus, meinte H., als Trittin brustaufwärts eingeblendet wurde. Bisky, der in der Regel schwarze Hemden bevorzugt, stach mit dem Blau der FDJ ins Auge. War das schon die ganze Botschaft?
Warum sehen die Wahlsieger bloß so unglücklich aus, fragte B., die sich über einen Lafontaine zu wundern begann, dessen Siegestaumel ihr gequält vorkam. Hat ja auch viel Arbeit gemacht. Und dann diese Zwischenschnitte: Der abgewählte Kanzler grinst. Nicht bloß einmal, so aus Versehen, wie ein Kleinkind, das sich im Maskenspiel übt. Nein, mehrfach, immer wieder. Die Regie wollte es gar nicht glauben und schaltete verschämt zum Restpersonal. Kohl grinste nicht, er erstrahlte in satter Zufriedenheit. Vorbei, geschafft, jetzt macht den Mist mal schön alleine. Was für ein Abgang. Die bräsige Selbstgefälligkeit, für die wir ihn all die Jahre verachtet haben, machte an diesem schönen Septembertag späte Sympathiepunkte.
Es war keine stille Nacht, auch keine heilige. An das Weihnachtslied mußte ich aber trotzdem denken. Als Kind hatte ich mich bei der Zeile „alles schläft, owie lacht“, immer gefragt, wer der schelmische Owie ist. Jetzt saß er in der Bonner Runde. Und ab. Harry Nutt
Lindenstraße
Drei Versionen dieser Lindenstraßen-Folge hatte Herr Geissendörfer sich ausgedacht. Denn als einer der letzten Männer mit Baskenmütze und Jeanshemd glaubt er immer noch erstens, die Wirklichkeit müsse abgebildet werden, zweitens, eine Unterhaltungssendung müsse „sich einmischen“, und drittens, das interessiere auch noch irgendeine Sau. Das Wahlergebnis erlaubte ihm gestern alsdann, seine Lieblingsversion auszustrahlen – die, in der „wenigstens der Dicke endlich weg“ ist (Klaus Beimer), die Grünen aber drin („Naja, wenigstens das“ – Hans Beimer)
Ähnlich billig wie die „Dauertiefpreise“ bei Präsentator Marktkauf sind die Ableitungen Geissendörfers. Das Wahlergebnis, so glaubt das Jeanshemd offenbar, räumt den Weg nun frei für eine Umsetzung der in jahrelangem Gesinnungsterror skizzierten Planetenrettungsoffensiven. Nun ist, die Kommentatoren waren sich da erdrutschartig einig, die Ära Kohl zu Ende. So miefig wie die Möbel im Klingschen Wohnzimmer allerdings auch die Reaktionen der sozialdemokratischen Kleindarsteller:
Berta Griese saß auf dem Sofa und prostete allein „auf ein neues Zeitalter“, im „Akropolis“ (Stichwort doppelte Staatsbürgerschaft) gab es Applaus, Frau Koch nannte Schröder „so einen schönen Mann“, und die drei alten Comic- Nazis um Onkel Franz fluchten. In der WG wurde Obstsalat zubereitet, und blöder hätte es auch Ingo Appelt nicht texten können: „Birnen zerschnipseln ist doch hoch politisch“/„Komm, wir machen rot- grünen Salat“. Nach drei Flaschen Wein wollte am Ende plötzlich Hans Pädagoge Beimer „endlich auch mal Sand im Getriebe“ sein und konnte „die Beweggründe“ des Strommastenumsägers Zorro „irgendwie verstehen“. Herr Geissendörfer war nie so bereit wie an diesem Abend. Benjamin v. Stuckrad-Barre
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