: Vom Schweigen. Der Fall Schneider/Schwerte
■ Die Biographien von Ludwig Jäger und Claus Leggewie präsentieren unterschiedliche Sichtweisen von Täterbiographien unterm Nazismus: Wissender Akteur oder unbedarftes Opfer
Selten provozieren Bücher aus der Geisteswissenschaft einen solchen Eklat wie Claus Leggewies „Von Schneider zu Schwerte“. Begleitet von großem Medienecho zog der Autor noch vor Erscheinen des Buchs ein Kapitel zurück, wegen „aufschlußreicher Drohungen“ aus der Aachener Hochschule. Ludwig Jäger, Autor der zuvor erschienenen Untersuchung „Seitenwechsel“ und Linguist an der RWTH-Aachen, stellte daraufhin klar, er sei nicht gemeint. Schneider/Schwerte-Biograph Jäger hatte zuvor beim Hanser Verlag einige Stellen im Manuskript des Politologen Leggewie moniert: Der habe ihn falsch zitiert, sogar Zitate frei erfunden. Zudem wies er Leggewies Behauptung zurück, er habe vor der Enttarnung Schwertes bereits Dossiers über jenen besessen. Jäger ersuchte um Korrektur der philologischen Fahrlässigkeiten – Leggewie strich das ganze Kapitel über die Aufdeckung der SS-Vergangenheit Schwertes im Jahr 1995.
Die Brisanz vor allem der Biographie Jägers liegt jedoch nicht in der Aufarbeitung des drei Jahre alten Skandals – „Seitenwechsel“ und die Arbeit Leggewies zeigen, mit welcher „diskreten Mitwisserschaft“ (Ludwig Jäger) und immer noch andauernden Verleugnung auch 50 Jahre nach 45 deutsche Vergangenheit verklärt wird. Hans Ernst Schneider war vor 1945 Mitglied der elitären Organisation SS- „Ahnenerbe“. Nach 45 allerdings hieß er Hans Schwerte und war Rektor der Aachener Hochschule (RWTH). Erst 1995, einen Tag bevor das niederländische Fernsehen seine Doppelidentität aufdeckte, gestand der hochgeehrte Germanistikprofessor Namenswechsel und SS-Tätigkeit ein. Jäger und Leggewie präsentieren auf jeweils über 350 Seiten unterschiedliche Strategien der Vergangenheitsbewältigung. Sie zeichnen ein gegensätzliches Bild des ehemaligen SS- Hauptsturmführers: den Nazi- Ideologen, der wußte, was er tat, und den „durchschnittlichen SS- Intellektuellen“, der „zufällig“ in diese Kreise geraten war, wie es Leggewie beschreibt.
Der Aachener Professor Ludwig Jäger weist in seiner Biographie akribisch nach, wie eng Schneider mit führenden NS-Politikern zusammenarbeitete. Jäger, der bei der Aufklärung des Falles weitgehend auf sich gestellt war, zweifelt nicht, daß Schwerte seine Nazi-Vergangenheit lückenhaft, teilweise falsch erinnert. Und Jäger zitiert Material, das die „diskreten“ Mitwisser entlarvt, die nach 1945 Schneider/Schwerte wiedererkannt haben müssen. Eine gänzlich andere Biographie entwirft der Gießener Professor Claus Leggewie. Er stützt sich hauptsächlich auf Schwertes mündliche Aussagen und präsentiert eine Bewältigungsstrategie, deren Grundlagen fragwürdig sind. Nach Leggewie hat sich die BRD zu einem „demokratischen Gemeinwesen“ entwickelt, das „gegen Rückfälle in die braune Vergangenheit immun“ geworden sei. Diese demokratische Wende bewirkten nach Leggewie nicht „strahlende Helden mit einwandfreiem Lebenslauf und sauberer Weste, sondern Leute mit einer zweifelhaften Biographie – wie Schwerte.“ Wie zweifelhaft allerdings Schwertes biographische Erinnerungen sind, Grundlage von Leggewies Arbeit, offenbart sich beim Vergleich mit Jägers Material in „Seitenwechsel“.
Der verständnisvolle Biograph Leggewie jedoch beginnt mit der Königsberger Kindheit: Schneider, der früh alleingelassen wurde, hatte Sehnsucht nach „(Volks-) Gemeinschaft“. Hinzu kamen die „allgemeinen Zeitumstände“ und ein Studium ab 1928, das ihn mit völkischem Nationalismus vertraut machte. Leggewie beschreibt den Weg Schneiders zum SS-„Ahnenerbe“-Referat „Germanischer Wissenschaftseinsatz“ als „eine Verkettung von Neigung und Zufall, Ehrgeiz und Laxheit“. Er hätte sogar „in den Widerstand geraten können“, denn „damals war vieles im Fluß, und die heute gradlinig wirkenden Karrieren des ,Dritten Reiches‘ waren von ebenso krummen Zufällen abhängig wie das Ereignis der „Machtergreifung‘.“
Dagegen dokumentiert Jäger den Werdegang des Nazi-Ideologen: Bereits vor 1942 hatte seine NS-Tätigkeit einen „erheblichen politischen und strategischen Stellenwert“, als Leiter des „Germanischen Wissenschaftseinsatzes“ wurde er dann zu einer treibenden Kraft in Himmlers „Ahnenerbe“. Schwerte erinnert jenes als „Himmlers Spielwiese“, tatsächlich handelte es sich um eine Art „Privat-Universität“, die die politische Macht der SS auf den Bereich des geistigen Lebens ausdehnen wollte – ein Pendant der Waffen-SS auf ideologischem Gebiet. In diesem Sinne profilierte sich Schneider noch Anfang 1945 mit seinem Projekt „Totaler Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, wie Jäger nachweist. Um die Verbreitung des „germano-zentrisch rassisch fundierten Europagedanken“ der SS kümmerte sich Schneider seit 1942 insbesondere in den sogenannten „Germanischen Randländern“ wie den Niederlanden und Belgien. Dabei arbeitete er eng mit dem SS-„Amt für volksgermanische Führung“ zusammen. Dieses erntete die Früchte seiner ideologischen Vorarbeit in Gestalt von Freiwilligen für die Waffen-SS. Jäger beschreibt einen Mann, der keineswegs passiv Befehle ausführte, sondern aktiv die SS-Politik mitgestaltete, sogar im Auftrag des „Sicherheitsdienstes“ mißliebige Schriftsteller beobachtete.
Besonders strittig war bisher Schneiders Wissen um Menschenversuche im KZ, für die er medizinische Geräte besorgte – die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren inzwischen eingestellt. Jäger kann belegen, daß Schneider 1943 in Den Haag als Verhandlungsführer des Reichsgeschäftsführers Sievers für die Beschaffung medizinischer Geräte auftrat – Schwerte erinnert sich lediglich, Listen überbracht zu haben, von der Verwendung der Geräte habe er keine Ahnung gehabt. Indem Jäger aufzeigt, wer wann wen getroffen hat, so das SS-Beziehungsgeflecht um Schwerte rekonstruiert, wird deutlich, wie unwahrscheinlich es ist, daß dieser nicht von den Menschenversuchen wußte.
Schneider, der 1945 zu Schwerte wurde – ein Totenschein sowie ein neuer Paß halfen ihm –, zog es trotz zweier Straffreiheitsgesetze (1949 und 1954) vor, seine Vergangenheit bis vor drei Jahren in Schweigen zu hüllen. Auch heute will er sich, wie Jäger nachweist, nicht an die ganze Wahrheit erinnern. Gerade diese Erinnerungen aber sind für Leggewie Grundlage seiner Biographie. Er rechtfertigt sein Vorgehen mit Freuds Äußerung: „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen.“ Eine mißverstandene Nutzanwendung Freuds, die von den Fakten, die Jägers Buch darlegt, dementiert wird.
Außer dem Verdienst, Schwertes Nazivergangenheit minutiös dargelegt zu haben, leistet Jäger auch einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Fachs Germanistik. An Hand von Schwertes Ruf an die Uni Aachen 1965 liefert er Indizien dafür, daß ein Großteil der am Berufungsverfahren Beteiligten für Schwerte votierten, obgleich sie wahrscheinlich wußten, daß Schwerte Schneider war. Isabelle Siemes
Ludwig Jäger: „Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik“. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, 360 Seiten, 58 DM
Claus Leggewie: „Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte“. Carl Hanser Verlag, München 1998, 368 Seiten, 45 DM
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