: "Ich tanzte mit der Frau des Botschafters"
■ Heute vor 20 Jahren wurde die Alternative Liste, jetzt Bündnis 90/Die Grünen, gegründet. Stadtrat Michael Wendt war offiziell Mitglied Nr. 001. "Bei meiner ersten Parlamentsrede 1981 verließen 70
Heute vor 20 Jahren saß Michael Wendt, damals 22 Jahre alt und bis dahin in der sozialistischen Jugendorganisation „Die Falken“ aktiv, bei der Gründungsversammlung der Alternativen Liste. Mit der Mitgliedsnummer 001 ist er – zumindest nominell – das dienstälteste Mitglied. Von 1981 bis 1983 gehörte er der ersten AL-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus an. Seit 1989 ist er Stadtrat in Neukölln, bis 1995 zuständig für Jugend, seitdem für Bildung und Kultur.
taz: Stellen Sie sich vor, damals hätte ein Zeitreisender vorbeigeschaut und Ihnen die Wahlberichterstattung vom vergangenen Sonntag vorgespielt...
Michael Wendt: Völlig unvorstellbar! Unter Umständen hätte ich mir vorstellen können, aus der AL eine sozialistische Partei zu machen. Aber daß wir dem Parlamentarismus anheimfallen würden, dachte keiner von uns. Selbst daß ich einmal Stadtrat werden würde, war völlig undenkbar – von Verhandlungen auf Bundesebene ganz zu schweigen.
Was war das für eine Gruppe, die damals 3.500 Leute zusammenbrachte?
Sie hat sich im wesentlichen aus drei Kreisen zusammengesetzt: Gewerkschafter, die vor allem aus dem Umfeld der K-Gruppen stammten, eine Gruppe von Anwälten, unter ihnen Otto Schily und Christian Ströbele, und ein paar Bürgerinitiativen, die sich vor allem gegen Berufsverbote und den Bau der Westtangente wandten.
Sie haben keine Partei, sondern ein Wahlbündnis gegründet...
Eine Partei wollte ganz bewußt fast niemand. Wir wollten das, was außerparlamentarisch an Aktivitäten vorhanden war, bündeln und quasi als linkes Bündnis bei den kommenden Abgeordnetenhauswahlen antreten. In dem Programm wurde damals außerdem verankert, daß wir auf keinen Fall eine Koalition eingehen würden.
Das Wahlbündnis war erfolgreich, 1981 zog die AL ins Abgeordnetenhaus ein.
Das war ein echter Triumphzug. Aber es hat Wochen, vielleicht sogar Monate gedauert, bis einem da mal jemand die Hand gegeben hat. Die meisten Parlamentarier haben sich bestenfalls zu einem mürrischen „Guten Tag“ herabgelassen. Ich durfte – oder mußte – die erste Rede eines ALers nach der Regierungserklärung Richard von Weizsäckers halten. Als ich angefangen habe zu sprechen, gingen 60, 70 Prozent der Leute aus dem Saal.
Auch die Sozialdemokraten?
Zum Teil schon. Vor meiner ersten Reise mit einem parlamentarischen Ausschuß nach Paris war Ditmar Staffelt noch sehr besorgt, wie sich ein ALer im Ausland benehmen würde. Ich bin dann aber ganz standesgemäß im Nadelstreifenanzug erschienen und habe mit der Frau des deutschen Botschafters getanzt, die mir dann ganz verblüfft mitteilte, Berliner Hausbesetzer hätte sie sich eigentlich anders vorgestellt.
Ab wann wurden Sie akzeptiert?
Nach etwa einem Jahr waren die meisten soweit, auf eine ganz vernünftige Art und Weise mit uns umzugehen. Man muß aber auch sehen, daß wir selber versucht haben, das Parlament nicht nur zum Diskutieren zu nutzen. Da wurden schon mal kopierte Geldscheine verteilt oder die Regierungsbänke besetzt. In der Hausbesetzerzeit war außerdem wichtig, daß Abgeordnete ihren Status auch anderswo einsetzen konnten – bei Polizeiabsperrungen zum Beispiel. Das war schon sehr nützlich.
Inwieweit gab es gemeinsame politische Ziele?
Der Häuserkampf war eines. Außerdem der Widerstand gegen den Autobahnbau durch den Tegeler Forst. Später kam die Friedensbewegung dazu – der Reagan- Besuch 1982. Das war eine wirklich schwere Zeit – damals hätte uns die Gewaltdebatte fast zerrissen. Bis 1985 gab es noch keinen Konsens in der Partei, daß Militanz als politisches Mittel abzulehnen sei.
Seither sitzt die AL, heute als Bündnis 90/Die Grünen, im Abgeordnetenhaus und hat in Berlin auch schon eine Regierungsbeteiligung hinter sich. Die Gewaltfrage ist geklärt, die Rotation wurde abgeschafft, die Frauenquote aufgeweicht. Welche Gemeinsamkeiten zwischen AL und Grünen sind geblieben?
Wer damals schon dabei war, hat noch vergleichbare Utopien – auch wenn das vielleicht im Tagesgeschäft manchmal nicht so deutlich wird.
Welche Utopien?
Das kann man nur sehr allgemein formulieren: Der gesellschaftliche Emanzipationsbegriff steckt meines Erachtens bei den altgedienten Berliner Grünen immer noch drin.
Wenn man Ihre Gründungsgeschichte nachliest, drängen sich aus heutiger Sicht Parallelen zu Schlingensiefs Chance 2000 auf. Sie hingegen sind für junge Leute heute eine völlig normale Partei.
Der Vergleich ist nicht ganz falsch – wir wollten allerdings nicht nur provozieren. Daß wir ein Problem mit dem Nachwuchs haben, ist richtig. Die, die heute zu uns kommen, haben eben auch schon ein ganz klassisches Parteienbild im Kopf. Für meine 19- und 20jährigen Neffen ist die AL so alt wie die CDU – seit sie denken können, gibt es uns.
Dennoch hat es 20 Jahre bis zu den ersten Koalitionsverhandlungen in Bonn gedauert.
Schneller wäre das auch von seiten der Grünen nicht gegangen. Sonst hätte es noch tiefere Brüche in der Partei gegeben, noch mehr Leute wären gegangen, hätten uns Anpassung und Opportunismus vorgeworfen.
Haben Sie die Befürchtung, daß die Grünen durch ihre Regierungsbeteiligung weiter nach rechts driften?
Die Befürchtung muß man haben. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.
Und?
Ich denke, es gibt keine andere Möglichkeit, als jetzt koalitionsbereit zu sein. Man kann nicht den Weg, den wir 20 Jahre lang gegangen sind, gehen und am Ende sagen: Mit uns nicht! Mitgefangen, mitgehangen. Alles andere wäre unser politisches Ende. Interview: Jeannette Goddar
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