piwik no script img

Rückkehr zur Politik

■ Eine rot-grüne Regierung hat die Chance, die Migrationspolitik zu entdramatisieren und den jahrzehntelangen „Reformstau“ aufzulösen

Wenn es ein gesellschaftspolitisches Feld gibt, in dem der Begriff „Reformstau“ geradezu bildlich vorstellbar ist, ist es die Migra- tionspolitik. Unser Staatsbürger- schaftsrecht, das noch aus Kaiser Wilhelms Zeiten stammt, macht langjährige InländerInnen künstlich zu AusländerInnen und grenzt aus, wo behutsame Integration erforderlich wäre. Das Ausländerrecht basiert weiterhin auf der Vorstellung eines vorübergehenden Aufenthalts der MigrantInnen – eine Lebenslüge dieser Gesellschaft und vor allem des bisherigen Gesetzgebers, die sich in vielfach diskriminierenden Bestimmungen und bürokratischen Schikanen äußert. Und die Asylpolitik, einst humanitäres Herzstück der Verfassung, ist unter der Regierung Kohl zu einer reinen Abschottungspolitik verkommen.

Trotz dieses unübersehbaren Handlungsbedarfs wird die neue Regierung den Reformstau in der Migrationspolitik nicht dadurch lösen können, daß sie – bildlich gesprochen – nun die Dämme öffnet. Dafür sind die Widerstände zu groß. Die vom Volksmund unter „Ausländerpolitik“ zusammenge- faßten Politikbereiche sind insge- samt alles andere als populär, und die SPD hat sich in der jüngeren Vergangenheit nicht gerade bemüht, gegen Vorurteile argumentativ vorzugehen.

Es wird daher vor allem dort Bewegung geben, wo in der künf- tigen Koalition Konsens besteht und wo sich die SPD sicher fühlen kann. Das ist bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts der Fall. Der Moment für eine solche Reform ist günstig: Sie hat großen gesellschaftlichen Rückhalt, kostet nichts, und es liegen fertig ausge- arbeitete Gesetzesvorlagen der bisherigen Ausländerbeauftragten der Bündnisgrünen und der SPD vor.

Die CDU beginnt gerade wieder eine Auseinandersetzung über das Thema, bei der Reformbefürworter wie der saarländische CDU-Vorsitzende Peter Müller in der Offensive sind. Eine große Volkspartei, so ihr Argument, kann ihre Politik auf Dauer nicht an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei gestalten. Es ist ja auch mehr als peinlich für die Union: In Frankreich nimmt sich nur die rechtsradikale Front National das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht zum Vorbild. Für die FDP wäre eine schnelle Reform eine verdiente Blamage. Jahrelang hat sie ein zeitgemäßes Staatsangehörigkeitsrecht als bürgerrechtliches Feigenblättchen vor sich hergetragen, ohne je einen Finger dafür zu krümmen. Die Botschaft einer zügigen Umsetzung wäre klar: So schnell kann das gehen, wenn mensch wirklich will.

Je schneller das Gesetz Wirklichkeit wird, desto länger kann es in der Praxis zeigen, daß die vom rechten Spektrum geschürten Ängste unbegründet sind. Und wenn die Reform zeitgleich mit einer Steuerreform auf den Weg gebracht wird, die breite Bevölkerungsschichten entlastet, bleibt noch weniger Raum für rechtspopulistische Panikmache.

Zwei von der französischen Linken übernommene Grundsätze könnten die zukünftige Gesellschaftspolitik einer rot-grünen Regierung prägen. Der eine ist die „Rückkehr zur Politik“. Das bedeutet die Abkehr von plattem Populismus und die ernsthafte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemstellungen. Hier liegt besonders die Aufgabe der grünen Programmpartei, die Raum schaffen muß für eine sorgfältige Argumentation, wo andere eher reflexhaft populistisch agieren. Zu überzeugen, statt den Eindruck von Bevormundung zu erwecken – diese Kunst haben die Bündnisgrünen im vergangenen Wahlkampf unter Schmerzen erlernt. Sorgfalt und Verständlichkeit erfordert auch ein weiterer Grundsatz der französischen Linkskoalition: Das „Entdramatisieren“ in der Migrationspolitik.

Schröder wurde nicht zuletzt deshalb gewählt, weil er den WählerInnen erfolgreich die Angst vor Veränderung genommen hat. „Nicht alles anders, aber vieles besser machen“ war sein Erfolgsrezept beim breiten Publikum. Die rot-grüne Synthese, nach der vieles anders gemacht werden muß, damit es besser wird, wird dauerhaft erfolgreich sein, wenn beide ihr Gesicht wahren können: Wenn die SPD unter Schröder die Notwendigkeit oder zumindest die „Unschädlichkeit“ von Maßnahmen auch ihrer Klientel vermitteln kann und sie mit populären Maßnahmen koppeln kann. Und wenn die Bündnisgrünen und ihre AnhängerInnen den berechtigten Eindruck haben, daß gute Argumente auch Wirkung zeigen. Für eine solches rot-grünes Zusammenspiel spricht im Bereich der Migrationspolitik nicht nur der überwältigende Zuspruch bei den MigrantInnen für die Bündnisgrünen und ganz besonders für die SPD.

Auch der gesellschaftliche Problemdruck stellt uns vor eine eindeutige Alternative: Entweder wir gehen den – gewiß nicht bequemen – Weg der Integration und der Gewährung von gleichen Rechten und gleichen Pflichten, oder wir riskieren weitere Entfremdungsprozesse bei einem Teil der MigrantInnen – mit allen verheerenden Konsequenzen, die dies für das gesellschaftliche Klima hätte. Im Ausländerrecht wird es vor diesem Hintergrund sicher Spielraum für eine weitgehende bürokratische Entrümpelung und für Verbesserungen geben: beispielsweise erheblich verkürzte Einbürgerungsfristen, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für mißhandelte Ehefrauen auch ohne langjährigen Mindestaufenthalt, der Verzicht auf bürokratischen Unsinn wie das Kindervisum sowie eine transparente Zuwanderungsregelung über ein Einwanderungsgesetz.

Schwieriger wird es beim Asylrecht, doch auch hier sind Kompromisse vorstellbar: etwa eine erweiterte Härtefallregelung, der Verzicht auf das eines Rechts- staats unwürdige Flughafenver- fahren und auf Schikanen wie die Versorgung mit standardisierten Essenspaketen. Vor allem kann ein Außenminister Fischer dazu beitragen, daß eine europäische Flüchtlingspolitik eingeleitet wird, die völkerrechtliche Verträge ernst nimmt und nicht durch einzelstaat- liches Rechtsdumping unterhöhlt. Und er kann sehr viel zur Bekämpfung der Fluchtursachen beitragen, indem er den Menschenrechten endlich den ihnen gebührenden Stellenwert in der Politik zuweist und die Kooperation mit Menschenrechtsaktivisten in den bisherigen Verfolgerstaaten fördert.

Mit einer global verantwortlichen und zugleich nach innen moderierenden Bürgerrechtspolitik kann die rot-grüne Regierung nicht nur sehr viel bewegen, sondern auch die Basis für eine langfristige Zustimmung zu ihrer Arbeit schaffen. Özlem Isfendiyar

klic

Verständlichkeit erfordert auch ein weiterer Grundsatz der französis

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen