: "Rußland ist der Eisberg"
■ Der Gouverneur des Gebiets Samara, Konstantin Titow, über die russische Wirtschaftskrise, das Verhältnis der Regionen zum Zentrum und die westliche Politik der leichtfertigen Kreditvergabe
taz: Moskaus Medien werfen Ihnen vor, Sie würden in der Krise Ihre Macht ausbauen und damit die territoriale Einheit Rußlands gefährden.
Konstantin Titow: Sind die russischen Massenmedien etwa vertrauenswürdig? Wer hat als erster die Ausfuhr von Lebensmitteln verboten und Steuerzahlungen an Moskau eingestellt? Es war Herr Lebed, der sich mit Hilfe der Medien als Retter Rußlands gerieren darf. Auf jene Gouverneure, die die Wirtschaft in ihrem Gebiet im Griff haben, wird unterdessen eine Hatz veranstaltet. Als förderten sie den Zerfall Rußlands!
Wir haben keine restriktiven Maßnahmen ergriffen. Schauen Sie: Bei uns kostet ein Kilo Fleisch 14 Rubel, in Moskau hingegen 40. Warum sollte ich meine Mitbürger um den Gewinn bringen? Ich bin überzeugter Marktwirtschaftler und halte mich an die Regeln. Wer kann die eigenwilligen Gouverneure an die Kandare nehmen? Richtig, eine starke Hand wie Lebed – der Rußland vereint. Das ist ein politisches Spiel, an dem sich die journalistischen Handlanger bereitwillig beteiligen.
Aber es stimmt doch, daß Samara Goldreserven anlegt und Obligationen ausgegeben hat?
Anfang des Jahres haben wir Euro- und Gebietsobligationen vorbereitet. Das ist eine gängige Praxis. Nur habe ich damals die heraufziehende Krise schon gespürt und wußte, daß ich den finanziellen Verpflichtungen kaum werde nachkommen können. Wir haben sie gedruckt, und sie liegen bei uns für bessere Zeiten.
Und das Gold?
Die Idee, Goldreserven anzulegen, verfolgen wir seit einiger Zeit. Die Überlegung ist ganz einfach. Grund und Boden kann man in Rußland generell nicht käuflich erwerben. In Samara haben wir das erlaubt. Nur Ausländer sind davon ausgenommen. Wie kommen wir nun aber an Kredite heran? Unsere Produktionsanlagen sind völlig überaltert, die Banken meist bankrott. Der regionale Haushalt läßt auch keine größeren Sprünge zu. Die Bürger schulden uns indes Steuern, die sie in Naturalien, Zucker, Weizen, Mehl oder Butter bezahlen. Das schicke ich nach Tschukotka, Magadan und nach Jakutien. Diese Regionen haben das Recht, ein Zehntel des geschürften Goldes zu behalten. Bei ihnen kaufe ich dafür Edelmetall. Und unser föderales Gesetz erlaubt es, die Reserven auf Schweizer Konten zu deponieren. Für Investoren reicht das als Garantie.
Sie sitzen zwischen den Stühlen, den Reformern der ersten Stunde und den planwirtschaftlichen Fossilen sind Sie ein Dorn im Auge.
Jegor Gaidar hat uns 1992 weismachen wollen, sinkt die Inflation, kommen automatisch die Investoren. Pustekuchen. Wir hätten gleichzeitig investieren müssen. Doch keiner wollte auf mich hören. In Samara haben wir dennoch in die Landwirtschaft und moderne Technologien investiert, die Verarbeitung vorangetrieben und die Lagerhaltung verbessert. Damit können wir inzwischen auf den Weltmarkt. Als die Krise im August ausbrach, produzierte unsere Makkaronifabrik 25 Tonnen am Tag, versorgte unsere Oblast und die angrenzenden Gebiete. Kurz darauf verließen bereits 85 Tonnen das Werk. Der Staat, das Zentrum, war unterdessen gelähmt und überließ alles dem freien Fall.
Wieso hat niemand die potemkinsche Wirtschaftsführung glaubwürdig kritisiert?
Tschubais konnte nicht zugeben, die Krise vorausgesehen zu haben. Schließlich haben er und Tschernomyrdin die Finanzpyramide aufgeschichtet. Präsidentenberater Liwschitz und ich haben voriges Jahr darauf hingewiesen. Das gesamte labile politische System hätte den Bach runtergehen können. Das neue Kabinett bietet einen Vorgeschmack auf das, wohin wir steuern. Der Westen sollte endlich zur Kenntnis nehmen: Die Epoche der politischen Schwergewichte ist vorbei. Die Zeit der intelligenten und gebildeten Leute bricht an. Im Westen herrscht die irrige Meinung vor, Rußland sei die Titanic. Doch Rußland ist der Eisberg, der die Weltwirtschaft in die Tiefe reißt. Man darf uns keine Kredite mehr so locker und leichtgläubig wie bisher einräumen. Wenn überhaupt Geld, dann nur für konkrete, genaustens geprüfte Projekte. Interview: Klaus-Helge Donath
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