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Ruhestätte der Melancholie

Weil Suizid Sünde war, mußten Selbstmörder lange Zeit vor der Stadt vergraben werden. Erst 1920 wurde der „Schandacker“ im Grunewald offizielle Begräbnisstätte  ■ Von Kerstin Kohlenberg

Erotisch und todesnah, das war Christa Päffgen ihr ganzes Leben. Vogue-Model, Warhol-Star, Velvet-Underground-Sängerin, Heroin-Junkie. Als sie 1988 auf Ibiza vom Fahrrad stürzte und dabei tödlich verunglückte, kannte die Welt sie als Nico, Ikone und Mythos der 60er Jahre. 50 Jahre hat sie dafür ruhelos und selbstmörderisch gelebt. Lübbenau, Berlin, Paris, New York und Manchester waren die Stationen ihres Lebens. Wo aber findet jemand, der sein ganzes Leben vom Tod träumte, seine letzte Ruhe? Neben der einstigen Affäre Jim Morrison auf dem Prominentenfriedhof Père Lachaise in Paris? Wohl kaum.

Ortswechsel. Waldfriedhof Grunewald-Forst. Zehn Uhr abends. Carl-Peter Steinmann leuchtet mit einer Taschenlampe die Grabsteine ab. Der Friedhofsforscher ist durch „sein“ Idol, den Berliner Grabstättenforscher Willi Wohlberedt, auf diesen abgelegenen Friedhof gestoßen. Steinmann scheint etwas ganz Bestimmtes zu suchen. Viel sieht er aber nicht auf den ersten Blick. Die meisten Gräber sind hinter schweren Tannen versteckt. Keine Grabbepflanzung, keine aufwendigen Grabsteine. Niemand scheint sich hier so richtig um den Erhalt der Gräber zu kümmern.

Auffällig aber sind die fünf großen russisch-orthodoxen Andreaskreuze am Eingang. „Zwischen 1917 und 1919“, erzählt Steinmann, „nahmen sich fünf Russen, die vor der Oktoberrevolution nach Berlin geflohen waren, in der Havel das Leben. Sie waren zu traurig über den Tod des Zaren. Freunde bestatteten die russischen Selbstmörder dann ,wild‘ hier auf dieser nahen Waldlichtung, wo zuvor schon häufig Selbstmörder begraben wurden.“

Der Freitod bedeutete für die Kirche damals Sünde, und sie verweigerte Selbstmördern aus diesem Grund die Beerdigung auf ihren Friedhöfen. Da es außer kirchlichen bis 1919 aber keine Friedhöfe gab, mußten die Unglücklichen heimlich im Wald verbuddelt werden. Erst 1920, als die Berliner Bezirke zu Groß-Berlin zusammengelegt worden waren und jeder Bezirk einen eigenen, nicht- kirchlichen Friedhof betreiben mußte, ließ der Magistrat von Groß-Berlin den „Schandacker“ mit einer Mauer umgeben und zum legalen Friedhof erklären: Nun konnte hier neben Selbstmördern auch jeder andere Tote begraben werden. Die Nachfrage blieb aber gering.

„Ich hab's, hier isses. Ich wußte doch, daß es hier irgendwo war.“ Grab 82. Steinmann leuchtet erst auf das Grab. Blumensträuße, Weinflaschen, kleine, in Plastik eingewickelte Zettelchen. Dann leuchtet er auf den Grabstein. Margarete Päffgen 1910–1970, Christa Päffgen 1938–1988. „Nico“, erzählt Steinmann, „hatte sich schon mit 18 Jahren als Todesstätte für sich und ihre Mutter Margarete diesen Friedhof der unglücklichen Melancholiker ausgesucht.“ Mitten im Grunewald, abgelegen und leise. Weit weg von Père Lachaise und den anderen Ikonen ihrer Zeit. Trotzdem finden immer wieder Fans den Weg in die Abgelegenheit. „Es sind zwar nicht so viele wie an Jim Morrisons Grab, aber manchmal bleiben sie sogar über Nacht“, erzählt der Friedhofswärter verwundert.

Die abgeschiedene und einsame Lage im Grunewald hat der Friedhof einer geographischen Besonderheit zu verdanken. Die Havel macht nahe des Friedhofs einen Knick. In dieser sogenannten Bucht von Schildhorn wurden nun die Leichen der Selbstmörder, die sich irgendwo in die Havel stürzten, angeschwemmt. Das sicherste für die Hinterbliebenen, die nicht auf eine kirchliche Bestattung hoffen konnten, war, die Wasserleichen in den Wald zu tragen und zu vergraben. Denn auf wilde Bestattung standen hohe Strafen. Näher an der Havel wäre es zu auffällig gewesen. Also trug man die Leichen bis zur nächsten, weniger dicht bewachsenen Waldlichtung. So entstand eine illegale Begräbnisstätte für Selbstmörder.

Obwohl der Friedhof nur 100 Meter lang und 50 Meter breit ist, gibt es keine Platzprobleme. Für Steinmann schon ein kleines Wunder. Im Jagen 135, so die offizielle Adresse, wurde noch kein einziges Grab eingeebnet. Es finden, so der Friedhofswärter, allerdings auch nur zwei bis drei Beerdigungen pro Jahr statt. „Viele Oberförster“, weiß Steinmann, „aber auch Leute ohne Familie oder Leute, die sich ihr Lebtag gewünscht haben, keine Familie zu haben.“

Auch Minna Braun liegt hier. Am 28. Oktober 1919 wurde die 25jährige Krankenpflegerin leblos an der Havelchaussee gefunden. Selbstmord durch Schlafmittel, stellte der Arzt fest. Minna Braun wurde zum nahen Friedhof gebracht und dort in der Leichenhalle eingesargt. Als ein Kripo-Beamter am nächsten Tag die Leiche untersuchte, traute er seinen Augen nicht. Da bewegte sich doch glatt der Kehlkopf des jungen Mädchens. Minna wurde sofort ins Krankenhaus eingeliefert. Nach 24 Stunden erwachte die Scheintote aus einem Starrkrampf. Sie hatte sich aus Liebeskummer vergiften wollen, aber nicht genügend Schlaftabletten gehabt.

Der Fall schlug hohe Wellen. Plötzlich hatten alle Angst, bei lebendigem Leib begraben zu werden. Damals kamen Särge mit Glasfenstern in Mode, damit keine Regung der Leiche übersehen werden konnte. Minna Braun allerdings war da nicht so kleinlich. Drei Jahre nach ihrer filmreifen Rettung dosierte sie das Schlafmittel etwas großzügiger und fand endlich im Grunewald ihre Ruhe.

Als hier Nicos Urne 66 Jahre später versenkt wurde, spielte ihr Sohn eines ihrer Lieder: „Liebes kleines Mütterlein, nun darf ich endlich bei Dir sein, die Sehnsucht und die Einsamkeit, erlösen sich in Seeligkeit.“

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