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■ Kosovo: Die humanitäre Katastrophe braucht eine politische Lösung. Ein Militärschlag der Nato würde großalbanische Träume bestärkenEigennutz und Moral

Ein Gespenst geht um an den Kabinettstischen Europas: Was wird aus den Bürgerkriegsflüchtlingen im Kosovo, wenn erst die kalte Jahreszeit hereinbricht? „Nicht wir“, beteuert denn auch die Nato, „der Winter stellt ein Ultimatum.“ Für militärische Schritte gegen Milošević sei es nun allerhöchste Zeit. Auf den ersten Blick mag das Argument einleuchten. Die Zweifel folgen beim zweiten Hinsehen. Seit wann wären es die Menschen, denen es nützt, wenn in ihrem Land ein Krieg eskaliert? Sind Bomben und Raketen etwa die Wunderwaffen, die einen hochkomplizierten Nationalitätenkonflikt auslöschen können wie mit einem Lichtschalter?

Die gängigen Klischees, in denen der Westen den Balkan zu begreifen sucht, verzerren die Wirklichkeit. So ist Slobodan Milošević kaum der verschlagene Despot, der kleinlaut einlenken wird, sobald er die Sprache der Gewalt zu hören bekommt. Er repräsentiert nur eines der drei einflußreichen politischen Lager in Belgrad, die allesamt den Kosovo nicht aufgeben wollen. Seine Hauptwidersacher sind die Radikalnationalisten des Tschetnik-Führers Šešelj. Gegen sie wirkt Milošević geradezu aufgeklärt moderat. Auch die dritte Kraft im Land, die einstige demokratische Opposition um Drašković und Djindjić, auf die der Westen lange vergeblich gehofft hatte, will den Kosovo nicht verloren geben.

Politisch würde einem militärischen Interventen eine geschlossene Front gegenüberstehen, die ein paar Luftschläge gegen strategische Ziele wahrscheinlich nicht aufbrechen. Das Land müßte mürbegebombt werden. So aber erzeugt man Märtyrer in einer Bevölkerung, die sich von der internationalen Staatengemeinschaft ohnehin diskriminiert fühlt. Schließlich ist der jugoslawische Anspruch auf territoriale Integrität und Unversehrtheit der Grenzen keine Forderung, die dem Völkerrecht widerspricht.

Amerikanische Politiker wie Verteidigungsminister Cohen vermeiden den verniedlichenden Ausdruck der „humanitären Intervention“. Sie sprechen nüchtern von einem „Angriff gegen Jugoslawien“.

Genau dies wollen die Kosovo- Albaner. Präsident Rugova, der Prophet des gewaltlosen Widerstandes, dessen Anhängerschaft inzwischen zusammengeschmolzen ist, und die Anführer der Untergrundarmee UCK, die seither den Ton angeben, unterscheiden sich nur in den Mitteln ihres Kampfes. Über das Ziel sind sie einig. Beide lehnen jede Form politischer Autonomie innerhalb des bestehenden Staatenverbandes ab. Beide fordern die vollständige Abtrennung des Kosovo von Jugoslawien. Sie wollen das Engagement des westlichen Bündnisses, aber nicht als Schlichter, sondern als mächtigen Verbündeten gegen den Feind in Belgrad.

Kann die Allianz, wenn sie sich zum Eingreifen entschließt, dieser Rollenerwartung entkommen? Kann sie die Waffen zum Schweigen bringen, ohne zugleich das Geschäft der Separatisten zu betreiben? Hier liegt das Risiko einer militärischen Intervention. Nicht nur im Kosovo würden großalbanische Träume bestärkt. In Albanien selbst agitiert Oppositionsführer Berisha mit demagogischen Parolen und verspricht sich davon die Rückkehr zur Macht.

Von dort könnte der Funke überspringen auf Makedonien, wo sich die albanische Minderheit gleichfalls anfällig zeigt für nationalistische Propaganda. Wie der noch ungefestigte makedonische Staat den Verlust seines westlichen Landesteils überleben sollte, vermag sich niemand vorzustellen. Sämtliche Nachbarn – Albanien, Serbien, Bulgarien, Griechenland – werfen begehrliche Blicke. Das würde dann mehr als nur ein Bürgerkrieg, der ganze südliche Balkan stünde in Flammen. Ein Angriff gegen Jugoslawien würde den Führungsanspruch der Nato an den Brennpunkten europäischer Sicherheit unterstreichen. Ob er das Los der Kosovo-Flüchtlinge bessert, erscheint fraglich. Die Nato müßte in Kauf nehmen, ohne Zustimmung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu handeln. Ein solches Vorgehen nennt das Völkerrecht eine Aggression.

Allerdings hilft untätiges Zusehen den Menschen in den Bergwäldern des Kosovo ebensowenig. Beide Konfliktparteien treiben mit ihnen ihr zynisches Spiel. Der jugoslawischen Staatsmacht sind entvölkerte Dörfer willkommen, weil sie den Widerstandskämpfern keine Versorgungsbasen und keinen Unterschlupf mehr bieten. Die albanischen Aufständischen aber wissen, daß jede anrührende Flüchtlingsszene vor einer ausländischen Kamera sie ihrem Ziel der externen Militärintervention ein Stück näherbringt. Adem Demaci, prominentester UCK-Sprecher: „Diese Tragödie ist der Preis, den unser Volk bereit ist, für seine Würde zu zahlen.“ Die Nato muß aufpassen, nicht ebenfalls höchst eigennützige Interessen hinter moralischen Motiven zu verstecken.

Die Lösung der humanitären Krise kann nur Teil einer umfassenden politischen Regelung sein, die allerdings nicht mehr lange auf sich warten lassen darf. Am dringlichsten ist jetzt eine Feuerpause, besser: die unbefristete Einstellung der Kampfhandlungen ohne Vorbedingungen. Eine multinationale Beobachtermission, die darüber wacht, daß die Waffenruhe eingehalten wird, wäre eine sinnvolle Maßnahme der Absicherung.

Parallel dazu müßten die Modalitäten einer langfristigen Konfliktbeilegung festgelegt werden. Eine Übereinkunft muß her, die allen Bewohnern des Kosovo, der albanischen Mehrheit wie der serbischen Minderheit, friedliche und gerechte Lebensbedingungen gewährleistet. Ob die Provinz in einem engeren oder lockeren oder in gar keinem Verfassungsverhältnis zu Jugoslawien verbleibt, kann nicht die ausschlaggebende Frage sein. Entscheidend ist, daß die Lösung auf Verständigung beruht, also nicht aus Waffenmacht hervorgeht, und geeignet ist, von den Betroffenen als vernünftig, nützlich und tragfähig akzeptiert zu werden. Hier ist die Mithilfe eines Vermittlers, der Geschick mit Ausdauer vereint und über internationalen Rückhalt verfügt, unerläßlich.

Für die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatorte verbessern sich die Voraussetzungen in dem Maße, wie der politische Verhandlungsprozeß fortschreitet. Das Problem hat nicht dieselbe Dimension wie nach dem dreijährigen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina. Dort blockieren sich die Rückführungsprogramme wechselseitig, weil jeder der beiden Teilstaaten bereits mit einer Flut von Flüchtlingen eigener Nationalitäten an die Grenzen seiner Aufnahmekapazität gelangt ist. Im Kosovo liegt hingegen die Anzahl der geflohenen oder vertriebenen Zivilisten weit niedriger, und das Ausmaß der Zerstörung von Wohnraum ist geringer. Vor allem aber drängt keine andere ethnische Bevölkerungsgruppe in das Vakuum nach. Noch sind die Chancen nicht vertan, der Krise mit vereinter Anstrengung Herr zu werden.

Dem steht einstweilen nicht nur die Unversöhnlichkeit der Kriegsparteien entgegen. Ebenso die Mängel des internationalen Konfliktmanagements. Ein Europa, das mit einer Stimme spricht und seine Kräfte bündelt, sollte unfähig sein, die Widersacher an einen Tisch zu bringen? Statt dessen blüht ein lebhafter Vermittlungstourismus: Emissäre aus allen Himmelsrichtungen sprechen mal in dieser, mal in jener Hauptstadt vor. Wessen Mandat und welchen Direktiven sie folgen, bleibt unklar. Die ordnende Hand wird nirgends sichtbar. Kein Staat von Rang, der auf seine eigenständige Krisendiplomatie verzichten möchte. Doch je mehr Unterhändler am Werk sind, desto leichter fällt es den Kriegsherrn, sie gegeneinander auszuspielen.

Fast ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges fehlt es noch immer an einem leistungsfähigen internationalen Sicherheitssystem, das für die neuen Erfordernisse ziviler Konfliktvorsorge gewappnet wäre. Versehen mit einer zweifelsfreien Rechtsgrundlage und gestützt auf die ungeteilte Autorität der Staatengemeinschaft, hätten Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die OSZE in diese Rolle hineinwachsen können. Inzwischen sind sie beide in die politische Bedeutungslosigkeit abgedrängt – angesichts eines weiteren Dutzends potentieller Kosovos in Europa ein unverzeihlicher Leichtsinn. Reinhard Mutz

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