piwik no script img

Achtung, Urtrauma

Die Erzählmaschine schnurrt, aber es knirscht nach Creative-writing-Kurs: T.C. Boyles neuer Roman „Riven Rock“ versucht einen Panoramablick auf Amerika  ■ Von Stefan Reinecke

Zuerst die gute Nachricht: Es gibt ein neues Buch von T.C. Boyle, dem Luftikus der US-amerikanischen Literatur. Boyle geht mit unbefangener, scheinbar grenzenloser Fabulierlust ans Werk, die sich um Originalitätsnachweise wenig schert. So eilte der Autor mit Sauseschritt durch die Genres und liefert seit zehn Jahren alle zwei Jahre einen neuen Roman ab. „Wassermusik“ (1987) war ein virtuoser Abenteuerroman für Erwachsene, „World's End“ (1989) der raumgreifende Versuch, nichts weniger als die Historie der USA als Familiengeschichte zu erzählen. Vor zwei Jahren „America“, eine sozialkritische Geschichte mexikanischer Immigranten in Kalifornien, die unschwer als Fortschreibung des Werkes von John Steinbeck zu entziffern war.

Ziselierte Selbstreflexion ist Boyles Sache nicht. Einen Roman zu schreiben, so der Autor, ist nichts anderes als „einen Rocksong zu komponieren“. Es geht stets darum, den richtigen Ton zu finden, um das Publikum zu fesseln. Schreiben ist bei Boyle nicht aus der Not geboren, sich selbst in der Welt begreifen zu müssen, ist nicht Selbstverständigung und Therapie, sondern reine Lust an der erzählerischen Verführung. Wer die Landschaftsbeschreibungen bei Karl May überblätterte und Thomas Mann eher langwierig fand, ist hier richtig.

„Riven Rock“ knüpft am ehesten an „World's End“ an. Es ist der Versuch eines Panoramablicks auf amerikanische Geschichte, ein Sittengemälde der USA des frühen 20. Jahrhunderts. Wer so hoch ansetzt, kann tief fallen. Es geht, knapp 600 Seiten lang, um einen authentischen Fall. Stanley McCormick, millionenschwerer Fabrikantensohn aus Chicago, heiratete Anfang des Jahrhunderts Katharine Dexter, Biologin und Tochter aus gutem Hause. McCormick war ein aufgeweckter junger Mann, den Kopf voller sozialistischer Flausen, seine Gattin eine Kämpferin für das Frauenwahlrecht, die Hochzeit ein gesellschaftliches Ereignis.

So könnte ein amerikanisches Märchen beginnen; doch Stanley McCormick ist ein gewalttätiger, bemitleidenswerter Psychopath. Die Hochzeitsnacht wird zum Desaster; McCormick fällt schließlich über alle Frauen her, die in seiner Nähe sind. So lebt er von 1908 bis zu seinem Tod 1947 in Riven Rock, einem abgeriegelten Prachtbau in Kalifornien. Katharine besucht ihn Jahr für Jahr, doch sehen darf sie ihn nicht. „Riven Rock“ will vor allem eine bizarre Liebesgeschichte erzählen, von zweien, die nicht zueinander kommen konnten.

Und noch mehr. Der Roman ist ein Gesellschaftspanorama, ein manchmal satirischer Blick auf die bigotte Upperclass, die an ihrer eigenen miefigen Sexualmoral erstickt. McCormicks Psychiater kommen und gehen: Der erste studiert das Sexualverhalten von Affen, der letzte ist Freudianer. So werden große Fragen verhandelt: die seelische Krankheit als Zeichen der Moderne, die Affen als Zeichen des von der bürgerlichen Moral abgespaltenen Tierischen. Als erzählerische Hauptfigur tritt zudem Eddie O'Kane auf, ein gutmütiger, grober Prolet und Frauenheld, der zum Wachpersonal in Riven Rock gehört und McCormicks Leid vielleicht am besten begreift. Psychoanalyse und Frauenbefreiung, die Klassengeschichte der USA und die Neurosen des Bürgertums – Boyle hantiert mit großen Themen und wuchtigen Metaphern. Auch „Riven Rock“ verfügt über Rückblenden und Perspektivwechsel, ironische Übertreibungen und den volltönenden, sprudelnden Boyle- Sound. Anfangs mag man die erzählerische Eleganz noch bestaunen; aber je länger man liest, desto überdrehter klingt der Ton. Die Schilderung beispielsweise der italienischen Community, die Eddie verprügelt, weil er die 17jährige Giovanella verführte, spielt ins Folkloristische. Die Bilder geraten manchmal zu grell, die Gesellschaftskritik zu flach, die Psychiater zu schrullig, die großen Themen zu klischiert, der Stil overwritten. Man hört gewissermaßen das Knirschen der Creative-writing- Mechanik. Die erzählerische Maschine läuft, die Pointen zünden. Aber der Rahmen hängt schief.

Was fehlt, ist psychologische Finesse. Als Stanley McCormicks Vater stirbt, sieht der kleine Stanley zum ersten Mal eine nackte Frau. Man versteht: Das Begehren ist mit Schuld vergiftet. Solche psychologischen Grundierungen, es gibt mehrere gleichen Kalibers, sind gewissermaßen mit Ausrufezeichen versehen. Aufgepaßt, hier ist das Urtrauma. Was sich in Stanley McCormicks Kopf abspielt, erfährt man nur in zwei kurzen Einschüben, in denen, gewiß gekonnt, die Wahrnehmung eines Irren skizziert wird. Warum so knapp? Weil diese Sicht Boyles vitalistischen Stil von innen zerstört hätte.

Seine Helden sind oft, wie in „America“, Versager, arme Hunde oder moralische Durchschnittsfiguren, die an ihren Lebenslügen scheitern. Aber stets werden sie vom Schicksal hin und hergeworfen – und Boyle versteht es, sie mit ironischer Distanz zu zeichnen. Dieses Repertoire versagt bei McCormick, der jahrzehntelang nichts tut, als zu grübeln und sich mit seinen Wahnfiguren zu unterhalten. Um Schizophrenie zu schildern, ist Ironie kein brauchbarer Stil. Boyle hat versucht, dieses Dilemma zu lösen, indem er Eddie O'Kane als eine Art Spiegel- und proletarisches Gegenbild von McCormick entwirft. Dort geschieht, was McCormick verwehrt ist: deftige Liebesaffären, Besäufnisse in Pubs, Eifersuchtsdramen, das pralle Leben halt. Aber dies ist nur ein Notbehelf. Das Zentrum der Geschichte bleibt leer.

So fehlt dem Roman die Balance. Daß McCormicks Wahn keine Stimme hat, ist ein literarischer Konstruktionsfehler. Bei T.C. Boyle, dem perfekten Handwerker, bringt er gleich das ganze Gebäude zum Einsturz.

T.C. Boyle: „Riven Rock“. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser Verlag, 568 Seiten, 45 DM

T.C. Boyle liest heute abend in Berlin im Tränenpalast.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen