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Eiland der sprechenden Grabsteine

Keine dürren Daten über Geburts- und Todestage sind auf den Friedhöfen der nordfriesischen Insel Föhr in Stein gemeißelt. Dort erzählen die Grabsteine tausend- und-eine Geschichten aus dem Leben der Verstorbenen, von ihren Leistungen und ihren Leiden. Selbst „vergnügte Ehejahre“ sind der steinernen Rede wert  ■ Von Johannes Winter

Dies ist die Geschichte von Mathias Petersen, der eigentlich Matz Peters hieß und einer der erfolgreichsten Walfänger der nördlichen Meere war. Als „Commandeur“ eines Fangschiffes erbeutete er im Laufe seines Seefahrerlebens die unglaubliche Zahl von 373 Walen. Kein Wunder, daß er sich damit nicht nur Reichtum, sondern auch einen besonderen Namen erwarb: „der Glückliche“.

Woher wir das wissen? Dies und noch mehr steht nicht in einer Familienchronik geschrieben, sondern auf seinem Grabstein. Die aufrecht stehende Platte über der letzten Ruhestätte des Walfängers befindet sich im Schatten des Friesendoms von Süderende auf Föhr, dem Ort der sprechenden Grabsteine.

Bei Pastor Kiesbye nebenan ist über den Glücklichen Mathias noch zu erfahren, daß er über fünfzig Jahre zur See fuhr, schließlich gekidnappt wurde und sein gekapertes Schiff samt Mannschaft nur gegen ein hohes Lösegeld aus französischer Hand freikaufen konnte. Wem dies noch nicht genug ist, dem erzählen die Grabsteine der Föhringer tausend-und-eine Geschichten mehr.

Keine dürren Daten über Geburt und Tod sind auf den Kirchhöfen der nordfriesischen Insel in Stein gemeißelt. Vom Leben der Verstorbenen wird berichtet, von ihren Leistungen und ihren Leiden, sei es „vom Glück gesegneter Seefahrer“ oder „glücklicher und beglückender Mütter“. Selbst „vergnügte Ehejahre“ sind die steinerne Rede wert. Aber auch der Antje Arfsten wird gedacht, die „abgelebt und lebenssatt in die Arme des Todes sank“.

Im gleißenden Licht der Sonne werfen die steinernen Tafeln lange Schatten. Dohlen keckern im Turm der weit über die Insel sichtbaren Backsteinkirche. Auf den Wiesen ringsum stolzieren Möwen, weiden Pferde, schwarzweiß die einen wie die anderen, so als lebe sich eine geheime Regie aus, akustisch angereichert mit einer Kakophonie aus Kreischen und Wiehern. Über den zweihundertjährigen Grabsteinen liegt die entschiedene Ruhe des Todes. Nicht sprachlose Trauer ist den Hinterbliebenen wichtig, sondern daß Auskunft gegeben wird.

Eingemeißelt ist immer der Text eines besonderen Lebens. So mag sich auch der Fremde belehren lassen, wie es früher war. „Hier ruhet Jung Göntje Ketelsen aus Oldsum, geboren daselbst 1779, den 9. Mai, die liebreiche Gattin und treue Lebensgefährtin des Jacob Ketelsen, mit dem sie 1800, den 24. Jan., verehelicht wurde; eine glückliche und beglückende Mutter von 4 Söhnen und 5 Töchtern, Großmutter von 23 Enkeln und Ältermutter von 4 Urenkeln; als Weitgenossin der Seligkeit durch den Tod abgerufen am 12. Mai 1857 in einem Alter von 78 Jahren 3 Tagen.“

Keine Hymne auf einen erfolgreichen Walfänger, wie der Ehemann unterm Nachbargrab auch einer war, lesen wir. Die Nachkommenschaft singt hier das Hohe Lied der Großen Mutter.

Sie verschweigt aber, was erst die Pastorin nebenan zu ergänzen weiß: den Alltag vaterloser Familien, die einsame Verantwortung der Frauen für Familie, Haus und Hof, während der walfangende Mann und Vater oft monatelang auf See war.

So kehrte Jacob Ketelsen eines Herbstes nicht wie üblich nach Hause zurück, weil das Packeis sein Schiff in Grönland den Winter über festhielt. Der Frau mit einem Stall voller Kinder, Vieh und Äckern ringsum blieb nur banges Warten, denn zu jener Zeit war selbst die Brieftaube als Kommunikationsmittel unbekannt.

Der Kirchhof von Süderende auf Föhr erzählt auch die Geschichte der Eheleute Ricklef Volkerts und Krassen Ricklef, er ein Walfang-Kapitän, sie Mutter eines Sohnes und einer Tochter, die Eltern vereint unter einem Grabstein. Ihn krönt ein prächtiger Dreimaster unter vollen Segeln, Arbeitsplatz des Mannes über viele Jahre im nördlichen Eismeer. Ein steinerner Grönlandwal neben dem Schiff macht die Visitenkarte des Toten vollständig.

Ricklef – „mit seltenem Glück gefahren“ – verdiente sein Geld übrigens nicht nur durch den Verkauf von Speck, aus dem in ungemein stinkenden Brennereien der zum Beleuchten begehrte Tran gekocht wurde. Auch die „Barten“ genannten Hornplatten aus dem Maul des Grönlandwals waren einträglich. In Fabriken mit der Bezeichnung „Fischbeinreißerei“ wurden daraus Korsettstangen, Kämme, Koffer und sogar Blattfedern für Kutschen hergestellt.

Doch die redenden Totensteine sprechen noch eine andere Sprache. Bei Pastor Kiesbye ist ein kleines Kolleg über die Bedeutung von Grabsymbolen zu erhalten. Er kennt die zahlreichen Bilder, mit denen etliche Stelen versehen sind, Allegorien, der Natur, der Bibel entlehnt oder der Arbeitswelt auf See wie auf der Insel: Väter und Söhne als Glockenblumen oder Tulpen, Mütter und Töchter als Sternblumen; geknickte Blüten erinnern an früh verstorbene Kinder; Bienenkorb, Sense oder ein Herz als Sinbild christlicher Liebe und Fürsorge.

Wir entdecken auch das abgetakelte Schiff, wie es, sorgfältig vertäut, über der Grabinschrift eingemeißelt ist. Der Seefahrer hatte abgedankt und war Bauer geworden, bis zu seinem Tod. Oktant, Fernrohr und Getreidegarbe „sprechen“ über den gelungenen Berufswechsel.

Auch auf Föhr regiert inzwischen bei neuen Gräbern die sprachlose Norm, das gepflegte Reihengrab. Wie in den Siedlungen das Reihenhaus der Lebenden. Keine Frage: Angesichts des Todes sind die Heutigen wieder wortkarg geworden, zurückgekehrt zu den nackten Daten der Verstorbenen.

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