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Allein gelassen in der fremden Heimat

Etwa 14.000 Türken über 55 Jahre leben in Berlin. Viele von ihnen sind nach jahrelangen physischen und psychischen Belastungen Frührenter. Doch nur wenige Einrichtungen kümmern sich um die speziellen Probleme der Migranten  ■ Von Songül Çetinkaya

Vor mehr als dreißig Jahren kamen sie als Pioniere, die ersten Gastarbeiter aus der Türkei. Heute sind sie wieder Pioniere, als die ersten hier lebenden türkischen Rentner. Der ursprünglichen Heimat fern, ist auch Deutschland zu ihrer Heimat geworden.

140.000 türkischstämmige Einwohner zählt das Land Berlin, zehn Prozent davon sind über 55 Jahre alt. Bedingt durch jahrelange harte Arbeit in Fabriken oder auf Baustellen und durch die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Migrationsgeschichte erkranken sie sowohl physisch als auch psychisch und beginnen ihren Lebensabend frühzeitig als Erwerbsunfähigkeitsrentner, häufig sind sie daher jünger als 65 Jahre.

„Türkische Patienten reagieren stärker mit körperlichen Beschwerden als Deutsche“, hat der Nervenarzt Muzaffer Dilmac in seiner Kreuzberger Praxis beobachtet. Mit unklaren Beschwerden würden sie oft zu zahlreichen Fachärzten geschickt, bevor die psychische Natur ihres Leidens bekannt werde. „Dies liegt natürlich auch daran, daß sie sich aufgrund fehlender Sprachkompetenz nur schwer verständlich machen können und in Krankenhäusern und Arztpraxen zuwenig türkisches Personal eingestellt wird“, betont Joachim Zeiler, Chefarzt für Psychiatrie im Auguste-Viktoria- Krankenhaus.

Nur sehr wenige Einrichtungen sorgen sich bisher um die Probleme türkischer Rentner. Die Arbeiterwohlfahrt in Spandau bietet im Rahmen ihrer Sozialberatung wöchentlich Gesprächskreise mit einem türkischen Psychologen an. Bei EM-DER e.V., dem „Hilfs- und Solidaritätsverein für türkische Rentner, Behinderte und Senioren“, treffen sich türkische Senioren zum gemeinsamen Frühstück; man unternimmt Ausflüge und Tagesreisen, und der Vereinsvorsitzenden Ergogan Özdincer hilft den Besuchern des Vereins bei ihren rechtlich-bürokratischen Problemen. „Die Rentner fühlen sich ausgenutzt und allein gelassen“, meint Özdincer. Er fordert die nichtdeutschen Senioren zwar zu mehr Selbsthilfe und Eigeninitiative auf, doch auf ein lautes Echo stößt er nicht. „Die haben ihre Kraft zum Kämpfen verloren und ergeben sich“, erklärt Özdincer. Sportlichen Aktivitäten beispielsweise seien die Vereinsbesucher zwar zugetan, aber nur, wenn diese in den Räumen des Vereins durchgeführt würden. „Hier drinnen ist die Türkei. Draußen vor der Tür fängt Deutschland an“, erklärt er diese Haltung.

Ein weiteres Problem stellt die Lebensweise der Kinder dar. Zum einen schließen die Bindungen der Kinder an Deutschland die Rückkehr der Familie in die Türkei aus. Zum anderen herrschen völlig andere Familienloyalitäten, als sie den Senioren aus ihrer Jugend bekannt seien. „Wir empfinden eine stärkere Abhängigkeit von unseren Kindern, als Deutsche dies tun“, meint Özdincer. „Es ist ein großer Schlag für uns, wenn unsere Kinder mit 18 Jahren plötzlich das Elternhaus verlassen wollen. Schließlich haben wir unser Leben für sie geopfert.“ Eine endgültige Rückkehr in die Türkei kommt auch aus Gründen der Gesundheitsversorgung für viele Senioren nicht in Frage. Eine gesetzliche Krankenversicherung ist dort noch lange nicht alltäglich, was eine Abdeckung der nötigsten Versorgung für die meisten ausschließt.

Erstmals bietet die Volkshochschule Kreuzberg nun auch Kurse für türkische Rentner an. Auf dem Programm stehen unter anderem Rückenschule für Frauen, denn überdurchschnittlich viele Frauen klagen über Rückenschmerzen. „Sie haben es mit Abstand am schwersten gehabt“, meint Özdincer. „Sie wurden zu Hause und in den Betrieben ausgebeutet und beleidigt. Ihr Leben bestand lediglich aus Putzen, Kochen und Kindergroßziehen. Männer konnten ihre Freizeit immerhin in türkischen Cafés verbringen, Frauen hatten gar keine Freizeit.“

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