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Abwesenheit ist manchmal unerträglich

Es gibt kein richtiges Sterben im gerichteten Leben: Der britische Ethnologe Nigel Barley untersucht weltweit Todesriten mit europäisch enzyklopädischer Sammelleidenschaft und mit dem Thema angemessener Ironie. Das Ergebnis liest sich wie ein Roman  ■ Von Erhard Schütz

Noch unbeliebter als nicht bestandenes Examen, Verlust des Arbeitsplatzes und Scheidung ist gemeinhin nur der Tod. Jedenfalls für die, die dabeistehen. Welche Eiertänze der Aufmerksamkeitslenkung und Interpretationsengführung, damit die demonstrierte Ungerührtheit als wahrhafter Kummer gelesen wird, die verquollenen Augen nicht als pures Selbstmitleid erscheinen. Ein Trost nur, daß es den Verstorbenen nicht besser geht. Unangenehm für sie, wenn sie die Begräbnisform verfügt haben. Konventionelle Bestattung zeigt unverantwortlichen Öko-Egoismus, Einäscherung hingegen autoaggressiven Narzißmus. Es gibt kein richtiges Sterben im gerichteten Leben. Südlich der Mainlinie mag hier und da noch die Orientierung daran helfen, wie's die anderen machen. Für alle anderen gibt es jetzt ein Buch, das zeigt, wie ganz anders die anderen es machen.

Nigel Barley ist unter Ethnologen, was Ulrich Beck für Soziologen. Oder besser, weil nicht so penetrant und wesentlich witziger: Donald Duck unter Enten. Man kann die fünf Bücher, die mittlerweile in deutsch erschienen sind, wie Romane lesen. Und dafür sind sie in der Vergangenheit auch gerühmt worden, witziges prodesse und bildsames delectare. Nun haben wir sein sechstes Buch.

Alle Welt scheint sich derzeit mit dem Tod zu beschäftigen. Für Barley spricht, daß er's im Original schon vier Jahre früher getan hat. Ethnologen, sagt er, sind Leichenbestatter und Einbalsamierer für sterbende Kulturen, also prädestiniert für die Kultur des Sterbens. Und daran läßt er keinen Zweifel. Es gibt so gut wie nichts um den Tod herum, was in seinem Buch nicht vorkommt. Keine Weltgegend, die ausgelassen würde. Doch! Die Russen fehlen. Und Deutsche kommen nur am Rande vor. Baule, Suhn, Toraja, Engländer, Iriana, Trobriander, Yoruba, US-Amerikaner, Bara, Thonga, Mexikaner, Dogon, Chinesen, Tlingit, Japaner, Nuba, Ashanti oder Maori. Alle tragen sie bei zum Kaleidoskop um den Tod: klinischer Tod, Spiritismus, Zombies, Jenseitsvorstellungen, letzte Worte, Testamente, Nachrufe, Post-mortem-Videos, Begräbnisorte und -formen, Mord und Mörder, Erinnerungsgegenstände (zu denen die Leichen selbst gehören, zumindest wenn sie Großmütter bei den Toraja sind, die auch schon mal als Bücherbrett benutzt werden), Schmalz aus Leichen, Scheintote, Schrumpfköpfe, Grabbeigaben, Wechsel der Geschlechterrolle beim Tod, Male und Monumente, Asche und Leichensaft, Leichentransporte, abgeschnittene Nasen, Verwesung und Konservierung (pökeln, trocknen, räuchern oder ausweiden), Lebensversicherungen, Sterbestatistiken, Guillotine und Hängen, Kannibalismus, Trauer um TV-Helden und Haustiere.

Das ist höchstens die Hälfte dessen, von dem Barley zu erzählen weiß. Leider geht das dann auf Dauer doch wie Mondo cane, Kuriosität auf Anekdote, Fund auf Beobachtung, Makabres auf Merkwürdiges, ähnelt über weite Strecken mehr einem Schlachtfeld als einem Jahrmarkt und ist erträglich nur durch die Anekdoten aus Selbsterlebtem, die er immer wieder einflicht. Darunter auch die äußerst britische Erzählung von der Beerdigung seines Vaters. Mitten im Buch. Vielleicht ist das eine eigene Art zu trauern. Jedenfalls ist es, bei allen Beteuerungen, nicht werten zu wollen, eine sehr europäisch-intellektuelle Weise, mit dem Thema umzugehen: sammeln, vergleichen, und das alles mit gebührend ironischer Distanz.

Oder aber Barley ist einer von den „Spaßbrüdern“, die in vielen Kulturen mit den Verstorbenen und ihren Angehörigen Spott und Schabernack treiben. Und wenn er es nicht als Katalog für multikulturelle Marodeure (wie wollen wir denn heute mal sterben, trobriandrisch oder serbisch?) angelegt hat, dann zeigt das Buch zumindest, wie das menschliche Wesen mit Todesfurcht und -wissen so verschieden reagiert – von Trauer als somatischem Ereignis über Angst vor Ansteckung durch den Tod bis zur Wut über den Gestorbenen. „Tollheit und Grimassieren, das Herumwerfen von Exkrementen in Slapstickmanier, Versuche, die eigene Großmutter oder die Leiche zu beschlafen, heftiges sexuelles Treiben, Freßorgien und Besäufnisse – all diese Dinge sind als Bestandteil regelmäßiger Trauerrituale gut belegt.“ Schließlich hat man eines begriffen: „Das einzige sichere und zuverlässige Zeichen des Todes ist der Beginn der Leichenfäule.“ Doch selbst dagegen gibt es Vorkehrungen. Man weiß jedoch einmal mehr: „Abwesenheit ist unerträglich.“ Auch darum schreibt man Bücher.

Nachtrag: Die schönste Erklärung für den Tod haben die nigerianischen Nupe. Weil die Menschen anfingen, Baumstämme herumzutragen, sie zu bestatten und zu betrauern, gab Gott ihnen den Tod, damit sie nicht grundlos jammerten.

Nigel Barley: „Tanz ums Grab“. Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 304 Seiten, 39,90 DM

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