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Nicht überdurchschnittlich gestört

Hamburg droht trotzdem eine Psychotherapeutenschwemme  ■ Von Heike Haarhoff

„Hamburg“, seufzte Gerd Andersen vom Amt für Gesundheitssicherung gestern, „war schon immer die deutsche Hauptstadt der Psychotherapeuten.“ Von den bundesweit etwa 25.000 Psychotherapeuten lebt jeder 30. (750) in der Hansestadt. Was aber nicht daran liege, daß die Seelen der Menschen in der Elbmetropole überdurchschnittlich gestört seien, versicherte Andersen. Die überproportionale Versorgung erklärt sich daraus, „daß viele hier gelernt haben und nach ihrer Ausbildung keine Lust hatten, Hamburg zu verlassen“.

Was auch bisher kein größeres Problem war. Jetzt aber droht Hamburg eine regelrechte Psychotherapeutenschwemme: Wenn am 1. Januar 1999 das neue Psychotherapeutengesetz in Kraft tritt, rechnet Andersen damit, daß rund 1200 Ärzte und Psychologen, also fast doppelt so viele wie derzeit, ihre Approbation bei der Gesundheitsbehörde beantragen werden. Der Grund für den Run: Das Gesetz regelt erstmals, wer sich Psychotherapeut nennen darf. Bislang war die Berufsbezeichnung ungeschützt. Ziel ist, die Patienten vor Scharlatanen zu schützen.

Der Haken für viele Ärzte und Psychologen: Nur wer vor dem 31. Dezember bei der Behörde mit Zeugnissen nachweisen kann, daß er das Zeug zum Psychotherapeuten hat, erhält eine sogenannte „bedarfsunabhängige Zulassung“. Wer später kommt, darf sich – ähnlich wie Kassenärzte – nur noch dann niederlassen, wenn die Kassenärztliche Vereinigung dazu einen Bedarf erkennt. Und der dürfte künftig äußerst gering sein.

Wer die Frist versäumt, hat praktisch keine Chance mehr, auf absehbare Zeit seinen Beruf auszuüben. Psychologiestudenten mit dem Berufswunsch Psychotherapeut sollten sich daher schon heute mit dem Gedanken an eine Umschulung anfreunden, rät Andersen. Denn ohnehin sind die Kriterien äußerst streng. Psychotherapeuten müssen eine mindestens siebenjährige Berufsausübung während der vergangenen zehn Jahre nachweisen. Wer zwar über eine anerkannte universitäre Ausbildung, aber nur drei Jahre Berufserfahrung verfügt, kann einpacken. Es sei denn, man ist bereit, die fehlenden vier Jahre Praxis durch zusätzliche Ausbildung aufzuholen.

Zusätzlich muß jeder Psychotherapeut 140 Stunden theoretische Ausbildung in einem „wissenschaftlich anerkannten Verfahren“ nachweisen, wobei nur die klassischen und vor allem von Medizinern favorisierten Verfahren Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Therapie sowie Analytische Psychotherapie anerkannt sind. Gesprächs-, Gestalt- oder Musiktherapie dagegen drohen aus dem Raster dessen zu fallen, was sich mit der Krankenkasse abrechnen läßt.

„Bis es hierzu eine eindeutige bundesweite Regelung gibt“, so Andersen, verfolge jedoch zumindest Hamburg eine liberale Haltung: „Wir erkennen unabhängig vom Verfahren alle Ausbildungen an anerkannten Einrichtungen an.“

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