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Wenn nichts mehr geht

Ein Spieler hat das Ersparte seiner Lebensgefährtin in einem Casino verloren, obwohl ihn die Spielbank gesperrt hatte. Er fordert die 42.000 Mark in einer Pilotklage zurück  ■ Von Barbara Bollwahn

Rot oder Schwarz, gerade oder ungerade, gewinnen oder verlieren. Das Leben am Roulettetisch ist klar und einfach. Bestimmt wird es vom Lauf der Kugel. Das Leben von Frank Mühlenberg (Name von der Redaktion geändert) ist rot und schwarz, gerade und ungerade. Seit 1975, kurz nach der Eröffnung der Spielbank im Europa- Center, ist das so. Seitdem der 58jährige spielt, hat er verloren: etwa 200.000 Mark, seine Ehe, seinen Job als Polizist und um ein Haar die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin.

Seit einem Dreivierteljahr setzt Mühlenberg statt auf Zahlen und Farben auf Justitia. Er fordert von der Neuen Deutschen Spielcasino GmbH die 42.000 Mark seiner Lebensgefährtin zurück, die er im August vergangenen Jahres im Casino am Alexanderplatz, der zweiten Berliner Spielbank, verloren hat. Nachdem seine Klage größtenteils zurückgewiesen wurde – er konnte nicht beweisen, daß er das Geld wirklich am Roulettetisch gelassen hat –, verkündet heute das Landgericht, ob das Casino ihm zumindest die 16.000 Mark zurückerstatten muß, die er bei vier Casinobesuchen verloren hat, bei denen ihn eine Bekannte begleitete. Doch die Gegenseite will deren Aussage bestreiten, weil die Zeugin einräumen mußte, daß sie die Geldbeträge nicht im einzelnen nachgezählt hat.

Dabei sind Mühlenbergs Karten nicht schlecht: Denn die Spielbank hat ihre Aufsichtspflicht verletzt. Nach der Besucher- und Spielordnung dürfen Eintrittskarten nur an Personen mit einem gültigen Personalausweis oder Reisepaß ausgehändigt werden. Auf dem Kassentresen im Casino weist zudem ein Hinweisschild deutlich darauf hin, „bei jedem Besuch den Personalausweis/Paß unaufgefordert vorzulegen“. Doch Mühlenberg bekam seit März 1994 etwa 200mal Zutritt ohne seine Papiere. Hätte er diese zeigen müssen, hätten die Spielbankmitarbeiter gemerkt, daß die Spielbank selbst ihn bereits 1987 bundesweit gesperrt hat und daß er sich ein Jahr später – wie derzeit fast 14.000 Personen in der Spielbank im Europa-Center – mit bundesweiter Wirkung selbst hat sperren lassen. Sperren, die bis zum heutigen Tag gelten.

Doch die Steine, die sich Mühlenberg selbst in den Weg gelegt hatte, wurden vom Einlaßpersonal bereitwillig beiseite geräumt. „Wenn man am Eingang eine schwere Münze fallen läßt, kommt keine Frage nach dem Ausweis“, beschreibt er die Leichtigkeit des Zutritts. Der Schlüssel zur Überwindung der Sperren war eine Eintrittskarte auf den Namen Dieter Vogel. Dieter Vogel war ein Bekannter von ihm, der ihm „etwas Gutes tun wollte“. Beim erstenmal mit dem falschen Namen hatte Mühlenberg ein „Wahnsinnskribbeln“. Doch weder beim ersten noch bei den nachfolgenden Besuchen wurde seine Identität überprüft. Selbst als Mühlenberg die falschen Eintrittskarten mit Begriffen wie „Selbstmord“ oder „Spielsucht“ unterschrieb, nahm keiner Notiz davon. Auf der letzten Karte stand „Vorhang“. Doch der Vorhang ging nicht runter. „Das ist keine Anklage“, betont Mühlenberg. „Ich war ja zufrieden, daß es so einfach war.“

Mühlenberg ist spielsüchtig. Deshalb sind die mit ihm abgeschlossenen Spielverträge nichtig, argumentiert sein Anwalt, Christian Ströbele. „Beim Betreten des Spielcasinos befand sich der Kläger in einem Rauschzustand, der jegliches vernünftige Denken für den Zeitraum seines Aufenthaltes dort ausschloß.“ Wenn der Einfluß von Alkohol oder anderen Drogen im Strafrecht die Zurechnungsfähigkeit mindere, müsse Ähnliches auch für Spielsüchtige gelten.

Bereits 1987 attestierte ein Psychologe Mühlenberg pathologische Spielsucht. Damals hatte ihn seine Leidenschaft kriminell werden lassen. Sieht man Mühlenberg, traut man ihm das nicht zu. Er wirkt gutmütig und vertrauenerweckend. So ließen ihn ältere Menschen in ihre Wohnung, als er nach Feierabend als Polizist bei ihnen klingelte, um sie vor einem vermeintlichen Raub in der Nachbarschaft zu warnen. Hatten sich die Leute überzeugt, daß ihr Erspartes noch da war, bat er um ein Glas Wasser und wurde selbst zum Dieb. Das Gericht verurteilte ihn wegen verminderter Schuldfähigkeit zu viereinhalb Jahren Gefängnis. „Da ist bei mir die Vernunft auf der Strecke geblieben“, sagt Mühlenberg rückblickend.

So war es auch im vergangenen Sommer, als er die Vollmacht für das Konto seiner Lebensgefährtin ausnutzte. Zehnmal stand er zitternd vor der Casinokasse, um insgesamt 105 Schecks gegen Jetons einzulösen. In einer Hand einen Kuli, in der anderen seinen Ausweis. Einmal glaubte Mühlenberg das Aus vor Augen zu haben. „Mich begrüßte der Saalchef mit ,guten Abend, Herr Vogel!‘, und gleichzeitig guckte der Kassierer in meinen persönlichen Ausweis und schrieb meinen wahren Namen auf einen der Schecks.“ Doch noch bevor der Angstschweiß auf seiner Stirn getrocknet war, hatte er die Jetons. „Denen geht es nur darum, Kasse zu machen“, sagt Mühlenberg. Nach Abführung der 80prozentigen Spielbanksteuer bleiben dem Casino jährlich etwa 10 Millionen Mark reiner Gewinn.

Mühlenbergs Kampf vor Gericht ist wie ein Spiel. Ganz am Anfang, als sein Anwalt Prozeßkostenbeihilfe für den Arbeitslosen beantragte, hatte er Glück. Das Gericht bewilligte die Unterstützung, weil der Klage gewisse Erfolgschancen eingeräumt wurden. Dann verließ ihn das Glück. Das Landgericht wies seine Zivilklage in erster Instanz größtenteils ab. Doch Mühlenberg macht weiter. Er will, daß seine Lebensgefährtin, die zu seiner großen Beschämung noch immer zu ihm hält, ihr Geld zurückbekommt, und er fordert rigorose Einlaßkontrollen für „die vielen jungen Leute, die sich zum Spielen verführen lassen“. Aber große Hoffnungen auf einen Gewinn macht sich Mühlenberg nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht. Sollte das Kammergericht, bei dem derzeit seine Berufungen gegen die beiden Teilurteile anhängig sind, auch nicht zu seinen Gunsten entscheiden, will er vor den Bundesgerichtshof ziehen. Und das kostet Geld.

Theoretisch könnte Mühlenberg versuchen, dieses Geld im Casino zu gewinnen – trotz der beiden Sperren. Doch er selbst muß sich nicht mehr beweisen, daß er sich Zutritt verschaffen könnte. Er weiß, daß er wie bundesweit über 100.000 Menschen dem Spiel verfallen ist und Mittel und Wege finden würde. Die Versuchung lockt ihn täglich. So wie das große Plakat in einer U-Bahn-Station, auf dem eine Frau Jetons und Geldscheine zusammenrafft. „Die Werbung ist pervers und aggressiv“, sagt er mit zitternder Stimme, „sie ist die Perfektion des Ruins.“ Trotzdem spricht sie ihn an. „Kolossal.“ Mühlenberg macht sich nichts vor. „Ich werde weiterspielen.“ Wie? „In normalen Bahnen.“ Das heißt: Er wird jeden Monat von seiner Arbeitslosenhilfe einige Mark beiseite legen, statt „noch mal so einen Mist zu machen“.

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